
© Sophia Lukasch
„Wie loyal kann das Konstrukt Stadt samt seiner Einwohner und Einwohnerinnen sein?“ lautete die Frage an mich. Mein erster Gedanke: Muss es nicht eher heißen, wie loyal sollten wir Menschen eigentlich unserer Stadt gegenüber sein? Vermehrt höre ich im Freundeskreis, wenn mal wieder Unzufriedenheit und politische Enttäuschung über den Stadtalltag aufkommt: „Ach, das wird doch hier eh nichts, wir ziehen weg.“ Wie loyal ist es, ein sinkendes Schiff zu verlassen, statt sich selbst zu engagieren und zu versuchen, das Ruder rumzureißen? Wäre es nicht sogar unsere Pflicht als Bürger:innen, uns selbst mehr zu engagieren, wenn wir finden, dass Dinge nicht gut laufen? Fehlt es uns vielleicht an einer dringend notwendigen Loyalität unserem Umfeld gegenüber? Es ist ja schon lange kein Geheimnis mehr, dass es unserer Gesellschaft in jeglicher Hinsicht an „commitment“ fehlt, ob in der Partnerschaft, im Job oder eben auch im Wohnort. Gefällt uns etwas nicht mehr, kaufen wir neu, tauschen aus oder ziehen eben weg. So macht man das in einer Gesellschaft, die auf Konsum und Individualismus aufbaut und in der Hedonismus zum Stadtleben gehört wie das Ei zum Huhn. Schließlich sind es ja genau diese Werte, die viele Menschen überhaupt erst in die Städte gezogen haben und noch immer ziehen, mal unabhängig vom Faktor Arbeit. Das Sinnbild „Stadtluft macht frei“ hält sich bis heute. Das Versprechen? In der Stadt kannst du alles sein. Keiner kennt dich, die Möglichkeiten sind grenzenlos. Auf der einen Seite verheißt das Gestaltungsfreiheiten für den Einzelnen. Dieses Empowerment hat es ermöglicht, dass sich Menschen aus Traditionen, Strukturen und Glaubenssätzen lösen, wodurch unsere Gesellschaft divers und freier wurde. Diese neue Freiheit aber kommt nicht kostenlos. Bezahlen tun wir mit einem Verlust des Zusammenhalts. Der Futurist Alvin Toffler schrieb bereits in den 1970er Jahren, dass sich das Superindustriezeitalter auf Kosten des „involvements“ entwickelt, und den neuen „modular man“ mit sich bringt. Damit meint er, dass wir nicht mehr „involved“ sind mit dem Schuhmacher, sondern unsere Beziehung nur an der Effizienz seines Tuns interessiert ist. Solange wir uns nicht mit den Träumen, Ängsten oder Themen des Schuhmachers beschäftigen, ist er für uns komplett austauschbar. Wir haben damit eine Kultur der „disposable person“ geschaffen. Vor allem das Leben in der Stadt konzentriert sich vor allem auf das Funktionale und das eigene Privatleben. Was paradox klingt, da wir doch gerade hier das größte Kulturangebot haben. Es gäbe also genügend Begegnungsräume, ja. Aber das alles bringt nichts, wenn wir uns nicht als Gemeinschaft verstehen: „Aus Individuen und ihren Besitzansprüchen formt sich keine Stadt oder Gesellschaft“, schreiben Kaltenbrunner und Jakubowski treffend in ihrem Buch „Die Zukunft der Stadt“. Für das Leben im Anthropozän, also dem neuen menschengemachten Zeitalter, in dem wir uns befinden, braucht es allerdings mehr denn je eine neue Verantwortung für das Gemeinschaftliche. So hat schon Hannah Arendt in ihrem Werk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ kritisiert, dass wir den öffentlichen Raum vernachlässigt haben, da wir einen zu einseitigen Blick aufs Tätigsein entwickelt haben. So unterscheidet Arendt zwischen arbeiten und herstellen, also dem, was wir heute unter Arbeit und Wirtschaft verstehen. Darüber hinaus aber nennt Arendt noch das Handeln als eine wichtige Form des Tätigseins. Dieses Handeln bezieht sich vor allem auf den öffentlichen Raum und damit auf unser Leben als Gemeinschaft. Wie können wir hier eine neue Verantwortung leben?
Dafür müssen wir uns gesellschaftlich neu aufstellen und vor allem ein neues Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir die Visionär:innen unserer Zeit und Gestalter:innen unserer Welt sind. Wir müssen erkennen, dass alles, was wir sehen, wenn wir aus dem Fenster schauen, menschengemacht ist. Stadtplanung ist eine institutionellen Aufgabe, Stadtlebendigkeit aber ist unsere Aufgabe als Bürger:innen. Im Französischen unterschied man lange zwischen „cité“ und „ville“. „Ville“ meint die Hülle einer Stadt, „cité“ die Lebensweise im Viertel also auch Haltung, Nachbarschaft und Bindung (vgl. Richard Sennett, „Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens“). So ist zum Beispiel das tägliche Verkehrschaos „ville“ zuzuschreiben, während die Hektik und das dem Chaos zugrundeliegende modernen Stress Teil der „cité“ ist. „Ville“ können wir nur bedingt beeinflussen, sie gehört in die Verantwortung der Politik. „Cité“ aber haben wir selbst in der Hand. Es ist der Raum, in dem wir wieder eine neue Loyalität schaffen müssen. Um Loyalität zu entwickeln, braucht es Identifikation. Diese schafft man über starke Bilder, gemeinsame Missionen und verbindende Erlebnisse.
Hier sechs Punkte, wie wir dort hinkommen können:
Mitreißende Visionen
Die großen Themen der Menschheit, wie Energie, Mobilität, Wohnraum, Bildung oder Ernährung und damit auch Stadtgestaltung, sind komplexe soziotechnische Systeme, ähnlich einem Korallenriff in der Natur. Sie bilden sich aus Verknüpfungen zwischen dem Sozialen und Technischen, also etwa Kultur, Regularien und Gesetze, physische Artefakte, Märkte und Industriestrukturen mit ganz unterschiedlichen Dynamiken. Die Transformation solcher Systeme dauert oft 30 bis 50 Jahre. Wenn wir möchten, dass Menschen heute anfangen, sich als Mitgestalter:innen zu verstehen und eine neue Loyalität zu entwickeln, dann brauchen wir starke Visionen, die uns motivieren. Bilder zu konstruieren ist eines der wichtigsten menschlichen Werkzeuge, denn sie eröffnen neue gedankliche Horizonte, bringen aber auch abstrakte Ideen zusammen. Bilder „ziehen“ uns unterbewusst in die Zukunft. Schon mal den Begriff „kathedrales Denken„ gehört? Er leitet sich ab vom Bau epischer Projekte für die Zukunft, also solche, die wir heute starten, aber nicht zu unseren Lebzeiten fertigstellen werden. Pyramiden z.B. oder eben Kathedralen. Dahinter verbirgt sich ein Denken mit Blick in die Zukunft, das weiterreicht, als unser eigenes Leben. Über Jahrhunderte haben Menschen an solchen Werken gearbeitet, obwohl sie selbst nichts von ihnen hatten und sie möglicherweise erst von den Urenkeln fertiggestellt werden würden. Die Basis hierfür war eine gemeinsame Vision für Prachtwerke, die in die Geschichte eingehen sollten. Auch wenn sie selbst die Fertigstellung nicht erleben würden, motivierte es die Menschen, Teil dieser Vision zu sein und einen Beitrag dafür zu leisten. Dieses Denken haben wir über die Zeit verloren. Die großen Themen unserer Zeit aber verlangen nach genau diesem gemeinsamen Bauen von Visionen. Visionen bilden die Basis für unsere Innovationen und damit unsere zukünftige Realität. Viele gegenwärtige Zukunftsbilder zeigen nur urbane Megastädte, Smart Cities und neue Fassaden, Entwürfe für unser zwischenmenschliches Miteinander aber gibt es kaum. Dies gilt es zu ändern.
Neue soziale Innovationen
Eine nachhaltige Stadt baut auf den Säulen Soziales, Technik und Grün auf, so Kaltenbrunner und Jakubowski. An grünen und technischen Innovationen mangelt es uns nicht. Dahinter versteckt sich das Problem, dass es unserem Gehirn viel einfacher fällt, Neuerungen in Form von Technik oder Produkten zu visualisieren als ein soziales Gefüge. In kaum einem alten Bild zur Stadt der Zukunft sieht man z.B. Ideen wie ein Rauchverbot oder die Gleichstellung der Frau. Genau das aber braucht es. Wir müssen daher neue Zukunftsbilder schaffen, die sich aus dem Gefühl ableiten, also der Frage: „Wie wollen wir künftig leben“ statt „wie werden wir leben“. Wie würde sich z.B. ein freier Freitag für alle auswirken, oder wie ließe sich ein neues Tageskonstrukt denken, bei dem wir alle eine lange gemeinsame Mittagspause hätten, ähnlich zur Siesta im Süden? Und was macht es mit unserem Zusammenleben, wenn Schulen erst um 9:00 statt um 8:00 Uhr starten? Warum wählen große Städte nicht ein Maskottchen, sodass sie ein Gesicht bekommen, mit dem man sich identifizieren kann? Um nur einige Ideen zu nennen.
Politische Missionen
Die Gestaltung einer guten Infrastruktur, sowohl technischer als auch sozialer Natur, ist die Kernaufgabe von Politik. Angefangen bei einem fairen Wohn-, Bildungs- und Gesundheitssystem über neue Mobilität bis hin zu Urban Farming vor der eigenen Haustür und gemeinsamen Märkten und Kiezfesten. Dabei geht es um mehr als nur neue mutige und kreative Ideen: Kommunen und Gemeindevertretungen müssen Missionen in die Gesellschaft geben. Bisher machen wir vor allem viel Politik gegen, aber kaum für etwas. Wie lassen sich Vereine, Bürgerinitiativen, Kiezquartiere und Bürger:innen motivierend zusammenbringen? Gerade in komplexen Stadtstaaten, in denen es keine Bürgerversammlungen wie in kleinen Dörfern gibt, fehlt es an Verantwortungsüberblicken und gemeinsamer Identifikation. Die Arbeit mit Missionen kann hier enorme Kräfte freisetzen, wie es das Vorbild der NASA aus den 1960er Jahren zeigt. Ein gutes Beispiel hierfür sind Citizen Science-Projekte wie z.B. Your Emotional City!, bei dem Bewohner:innen einer Stadt in einer App benennen und bewerten, welche Orte welche Emotionen triggern, sodass Wissenschaft und Politik dann aktiv Lösungen finden können. Denn das Leben und Aufwachsen in der Stadt geht mit einem höheren Risiko für einige psychische Erkrankungen und sozialen Stress einher. Dies zu lösen braucht verschiedenste Akteure und systemische, kollaborative neue Ansätze. Zusammengehalten werden sie durch Missionen.
Neue Task Forces und Rollen
Warum gibt es nicht schon längst richtige Kiez-Manager:innen oder mehr Bürger:innenbüros? In Paris gibt es z.B. die Idee der „Lulu dans ma rue“, zu deutsch: „Lulu in meiner Straße“. Dahinter verbirgt sich ein kleiner Kiosk, betrieben von einem gemeinnützigen Verein, der auf lokaler Ebene Jobs schafft: „Lulus“ übernehmen Heimwerkerarbeiten, Hilfe bei Behördenangelegenheiten oder reparieren Computer – und das zum kleinen Preis und direkt vor der Haustür. Damit soll wieder mehr Menschlichkeit ins Viertel kommen und Nachbarschaft als Geborgenheit, Gemeinschaft und Überschaubarkeit gelebt werden. Gerade die Arbeit mit Menschen – ob kreativ, in der Pflege, der Kultur, im Handwerk oder in der Bildung – bildet den Kern unserer Gesellschaft. Eine gute Stadtplanung hat das im Blick. Sie setzt sich für Menschen ein, die uns jeden Tag zur Seite stehen und versorgen, ob als kleiner Betrieb, Verein oder Kunstschaffende. Die Mietkrise, ob für Gewerbe- oder Wohnraum, verdrängt genau diese Menschen immer mehr aus der Stadt. Eine gesunde Stadt aber braucht all diese Zugänge und Begegnungen fußläufig.
Gemeinsame Erlebnisse
Musik und Kunst verbindet uns Menschen und bringt uns auf die Straßen – im Guten. Nicht umsonst sind Tanz und Musik in wohl allen Kulturen ein wichtiges Ritual. Warum fördern wir das nicht noch mehr durch mehr kostenlose Kiezfeste und Konzerte? Indem z.B. die Nachbarschaft regelmäßig freitags mit eigenen Stühlen im Park zusammenkommt, grillt oder eben Musik lauscht. Am nächsten Tag kann man gemeinsam den Park aufräumen und dafür mit kostenlosen Croissants danken. Um auch hier nur mal eine Idee zu nennen.
Mehr Zeit
Mehr Loyalität und neue Verantwortung aber braucht vor allem eins: mehr Zeit. Eine mündige Bürgerin zu sein, den Wocheneinkauf auf dem Markt zu machen, Dinge selbst zu reparieren, sich zu informieren, wo die gekaufte Mode herkommt, zu entscheiden, wen ich am kommenden Sonntag wähle, mit nachhaltigen Produkten die Wohnung zu putzen, das selbst gebastelte Geschenk, das Ehrenamt im Fußballclub – all das braucht Zeit und Aufmerksamkeit. Wenn wir uns eine Gesellschaft wünschen, die sich im öffentlichen Raum gestalterisch und wertschätzend begegnet, dann müssen wir auch die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schaffen. Stadtplanung ist damit keinesweg nur Aufgabe der Gemeinden, sondern auch vor allem des Staates, der uns in der Not unterstützt, für Mut belohnt und uns Werkzeuge bereitstellt, mit denen wir nicht nur mündige, sondern gestaltende Bürger:innen werden – die vor allem den öffentlichen Raum gestalten, denn dort findet ein großer Teil unseres Lebens statt.
Aileen Moeck
wurde 1990 in Berlin geboren. Sie ist Zukunftsforscherin und Expertin für Innovation und Transformation mit der Mission, Menschen zu aktiven Zukunftsgestalterinnen zu machen, um eigene visionäre und progressive Ideen in die Welt zu tragen. Neben der Organisationsberatung und Entwicklung eigener Zukunftskonzepte ist sie zudem Bildungsaktivistin und Gründerin der gemeinnützigen Bildungsinitiative „Die Zukunftsbauer“. Für ihr Engagement, Zukunftsdenken an Schulen zu bringen, wurde sie 2018 im Rahmen des Wissenschaftsjahres „Arbeitswelten der Zukunft“ ausgezeichnet. Ihren hier entwickelten Ansatz der Zukunftsgestaltung konnte sie 2019 auch als Botschafterin für Futures Literacy bei der UNESCO in Paris vorstellen. Seit 2020 ist sie Geschäftsführerin des „Zukunftsbauer Instituts“.
Dieser Beitrag erschien zuerst im polis Magazin „Loyalty“.
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