Ich treffe Olga. Ihr Haus liegt an einem der unüberschaubar vielen asphaltierten Hinterhöfe am Newskij Prospekt, jener Prachtstraße, die als „Große Perspektive“ und eine von drei Magistralen sternförmig auf die Admiralität führt. Ich schlüpfe durch zahlreiche Tordurchfahrten hindurch und gelange an überfüllten Müllcontainern und wild parkenden Autos vorbei zu ihrem Hof. Im Hausflur empfängt mich ein Geruch, der an Katzenurin erinnert. Ihre Wohnung indessen atmet den Charme ihrer bürgerlichen Entstehungsgeschichte: Die Tapeten und die vielen Details sind unverändert, keine sowjetische Kommunalka-Überformung. Viele dieser Wohnungen in der von der UNESCO unter Schutz gestellten Innenstadt wurden in den vergangenen 20 Jahren einer Totalsanierung unterzogen, diese offenkundig noch nicht.
Olga blickt aus ihrer Küche in den Hof. „Gerade in den Höfen ist es immer etwas düster, aber ich weiß nicht, ob es in ‚Piter‘ überhaupt Wohnungen mit genügend Licht gibt.“ Sie liebt die angenehme Atmosphäre der Höfe, die gelb-bräunliche Ästhetik der Fassaden, diese andere Seite der Stadt hinter den prächtigen Fassaden des historischen Zentrums. Für sie scheint die ursprüngliche Stadtidee für St. Petersburg immer noch greifbar zu sein.
Entlang des Grobojedowkanals mit seinen reich gestalteten Brücken spaziere ich nach Kolomna. Ich passiere das Mariinskij-Theater, das jüngst um einen Neubau der kanadischen Architekten Diamond Schmitt erweitert wurde. Mit dem ursprünglichen Entwurf Dominique Perraults, dessen güldene Hülle mit den goldenen Kuppeln der Innenstadt korrespondierte, hat das Haus längst nichts mehr zu tun. Eine städtebauliche Enttäuschung. Kolomna ist eines der ältesten Quartiere St. Petersburgs, bekannt durch einfachen Wohnraum, schlechte Sanitärbedingungen und einen hohen Armutsanteil. Bis heute könnte einen dort noch jenes Gefühl von Ausweglosigkeit beschleichen, die Dostojewskijs Romanfigur Raskolnikow zu einem Mord an einer alten Wucherin in dieser Nachbarschaft bewog. Dort bei Lilija angekommen erlebe ich die Fortsetzung der einmal als ideal erachteten Wohnform aus der ersten Phase nach der Revolution, allerdings unter kapitalistischen Bedingungen. „Es ist grauenhaft, in einer ‚Kommunalka‘ zu wohnen. Die Nachbarn sind eigentlich immer schlecht“, klagt Lilija. Immerhin kann sie zwei Zimmer der verwohnten Wohnung, in der die Wäsche über dem Küchenherd trocknet, ihr Eigen nennen. Sie hofft, bald ihrer alkoholabhängigen Mitbewohnerin das dritte Zimmer abkaufen zu können. „Hier ist meine Heimat seit Kindertagen. Hier kann ich mal draußen am Kanal sitzen und Bier trinken. Wer will schon in den Vorstädten wohnen, wo alles zu weit auseinander liegt.“ Mit einem Programm will die St. Petersburger Stadtregierung bis 2016 die Kommunalka abschaffen – angesichts von über 109.000 Wohnungen im Jahr 2009 erscheint das ambitioniert.
Ich verlasse Kolomna, die vielen Hafenkrane vor Augen überquere ich den Obwodnij Kanal. St. Petersburg ist hier kaum wiederzuerkennen: Ungeordnete Industrieanlagen legen sich in einem breiten Gürtel um die Stadt, eingestreut finden sich Stadtteile, die dem Modell der Gartenstadt folgen – errichtet im Stile des Konstruktivismus. Dem totalitären stalinistischen Städtebau hatten sie zu wenig entgegenzusetzen. Ich erreiche den Wohngürtel, der St. Petersburg gänzlich umschließt und in dem heute etwa vier Millionen der knapp fünf Millionen Petersburger wohnen. Weit mehr als nur ein Hauch von „Leningrad“, von jener sozialistischen Utopie der Breschnew-Ära, weht durch die zugigen Prospekte. Dort, in Ozerki, lebt Aleksandr mit Mutter und Freundin in einem tschechischen elementierten Gebäudetyp aus den 1970er-Jahren, dessen Länge und Anordnung der Fenster an ein „Schiff“ erinnern. „Der Typ ist gut, auch wenn Küche und Toilette viel zu klein sind und wir zu dritt in zwei kleinen Zimmern wohnen. Wir haben den Balkon verglast und für Mutter suchen wir jetzt ein Häuschen vor der Stadt.“ Die 9-, 12- und 15-geschossigen Gebäuderiegel bilden großzügige, grüne Höfe aus. Doch inzwischen wird stark nachverdichtet. „Die Neubauten sind unglaublich hässlich“, sagt Aleksandr. Nie hätte er gedacht, dass er den Ausblick auf die alten „Schiffe“ eines Tages als sehr schön empfinden könne. Sozialistische Schlafstädte wie in Ozerki oder Kupchino sind in den vergangenen Jahren massiv weiter gewachsen und haben dabei dennoch kaum an Gesicht gewonnen. Man bebaut Lücken, Höfe und die Parks im Herzen der sogenannten Mikrorajons. Ewgenija wohnt in einem solchen „hässlichen“ Neubau mit 25 Etagen. „Auch wenn es kein Gaudí ist – ich finde unser Haus schön, weil die Fassade viel Glas hat.“ Für den Rohbau hat Ewgenija 560 Euro pro Quadratmeter gezahlt, der Innenausbau kam noch obendrauf. Mit Qualität und Preisen der finnischen Baufirma ist sie sehr zufrieden. Die Raumhöhe beträgt 2,80 m, es gibt doppelt verglaste Balkone und ein Concierge sorgt für Sicherheit im Gebäude. „Vor Kurzem haben die sogar ein paar Risse repariert und alles selbst bezahlt – fast wie im Sozialismus.“ Ein städtebauliches Konzept für die Verdichtung ist indessen kaum erkennbar, eine Gestaltung des Freiraums nur an wenigen Stellen zu erahnen. Keiner fühlt sich für die riesigen Freiflächen verantwortlich. Zaghaft legen Bewohner kleine Vorgärten vor den 25-Geschossern an. „Gestalterisch kann man schon etwas verbessern“, meint Ewgenija: „Blumen allein helfen nicht, es fehlen große Bäume. Der seltsame Park ist viel zu kahl, kein schöner Ort.“ Der Supermarkt bringe zum Glück etwas Farbigkeit an den Stadtplatz, der eigentlich nur eine riesige Kreuzung sei.
Ich fahre schließlich hinaus an die sogenannte „Meeresfassade“. Ich blicke über den Finnischen Meerbusen. Eine übergroße Leninstatue hätte den Schlusspunkt der doch niemals abgeschlossenen Stadterweiterung der Breschnew-Ära setzen sollen, ihr Platz ist frei geblieben. Nun wurden vor dieser Meeresfassade dem Meer erneut über 470 ha Land abgerungen – für eine „neue Meeresfassade“ mit Hafen und Hochhäusern als neuer Stadtsilhouette. Der Hafen ist fertig, sonst nur Wüste. Skeptisch blicke ich über das neu gewonnene Land und überlege, wie die Bewohner diese buchstäblich utopischen Versprechen ständiger Neuanfänge aushalten, während Aufwertung und Pflege ihrer Nachbarschaften allzu oft in Vergessenheit geraten.
Ich muss an Sergej denken, den ich in seiner „Chrustchewka“-Wohnung auf der Wyborger Seite besuchte. Die „Chrustchewki“ sollten in den 1960er-Jahren nur provisorisch die Wohnungsnot lindern. Längst sind aus diesen kleine gartenstädtische Dauerprovisorien geworden. Neues scheint immer wichtiger gewesen zu sein. „Russen bauen immer an neuer Stelle“, erklärt Sergej, „denn auf dem sauberen Papier sehen Zeichen schöner aus. Wir Russen denken nach vorne, entwickeln Visionen, die sich nicht mit alten Problemen beschäftigen.“ St. Petersburg, diese Stadt unvollendeter Utopien, wird man nur begreifen, wenn das Unvollendete nicht als Unvermögen für nicht erreichte Ziele gelesen wird, sondern als Begabung, sich mit den widrigsten Verhältnissen zu arrangieren – getragen vom Stolz über das Erreichte und der stillen Hoffnung, das Unvollendete irgendwann mit anderen Augen sehen und es vielleicht vollenden zu können, nur eben etwas später.
Schreibe einen Kommentar