FRIEDRICH HEINRICH – EIN NEUES STADTQUARTIER IN KAMP-LINTFORT

Das Stadtquartier Mont Cenis in Herne-Sodingen auf dem Areal der früheren gleichnamigen Zeche, die neue Mitte in Dortmund-Eving rund um die ehemalige Zeche Minister Stein, oder das Kreativ.Quartier Lohberg in Dinslaken auf dem Areal des Bergwerkes Lohberg/Osterfeld sind einige Beispiele für die erfolgreiche Revitalisierung und Quartiersentwicklung inmitten des urbanen Stadtgefüges.

Das neueste Beispiel für die erfolgreiche Entwicklung innerstädtischer Gebiete ist das Stadtquartier Friedrich Heinrich in Kamp-Lintfort. Kamp-Lintfort ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts eng mit dem Bergbau verbunden. Mit der Schließung des Bergwerks West vor gut sieben Jahren verlor die Stadt einen wesentlichen Faktor ihrer ökonomischen und sozialhistorischen Wurzeln. Allerdings begann die Stadt Kamp-Lintfort schon frühzeitig, das angekündigte Ende des Bergbaus durch einen aktiven Strukturwandel zu steuern und eine diesbezügliche Stadtentwicklungsstrategie zu erarbeiten und umzusetzen. Ein besonderer Baustein dieser Umgestaltung ist in Kamp-Lintfort die Durchführung der Landesgartenschau 2020, bei der das ehemalige Bergwerksgelände eine zentrale Rolle spielt. Denn bevor das neue Quartier Friedrich Heinrich realisiert wird, entsteht dort im Rahmen der Landesgartenschau eine attraktive Parklandschaft, die anschließend als Naherholungsgebiet für das neue Quartier erhalten bleibt.

Die Konzeption und Planung dieses Umgestaltungsprozesses geschieht dabei schon seit Jahren in enger Abstimmung mit der RAG Aktiengesellschaft als ursprünglichem Flächeneigentümer und deren für die Sanierung und Entwicklung zuständigen Tochter, der RAG Montan Immobilien. Die ca. 40 Hektar große Betriebsfläche des ehemaligen Bergwerkes West liegt in unmittelbarer Nähe der Innenstadt. Nach der mehr als hundertjährigen Bergbaugeschichte soll das Areal neu entwickelt und in die angrenzende Siedlungs- und Infrastruktur integriert werden. Diese Aufgabe stellt einen bedeutenden Bestandteil des Stadtumbaus von Kamp-Lintfort dar, der durch die geplante Landesgartenschau im Jahr 2020 einen besonderen Impuls erhalten wird. Schon realisiert wurden auf dem innenstadtnahen Teil der Bergwerksfläche die Hochschule Rhein-Waal und ein Kinocenter. Ein neuer Bahnanschluss Richtung Moers mit Haltepunkt auf dem Zechenareal in nächster Nähe zum Stadtzentrum ist in Planung.

Nach Durchführung der Landesgartenschau soll der östliche Teil des Areals als Zechenpark fester Bestandteil des zentralen Stadtgefüges werden. Die westliche, etwa 15 Hektar große Fläche soll städtebaulich entwickelt werden. Unter Einbindung denkmalgeschützter Bestandsbauten soll ein identitätsstiftendes Stadtquartier mit besonderen Adressqualitäten entstehen. Durch diese Folgenutzung soll nicht nur der Lückenschluss im Stadtgefüge erwirkt, sondern die Attraktivität von Kamp-Lintfort als Wohnstandort gesteigert werden. Im Jahr 2018 wurde ein städtebaulicher Wettbewerb für die zukünftige Wohnbaufläche durchgeführt, der im Nachgang des Wettbewerbs so weit zu einem städtebaulichen Rahmenplan konkretisiert werden soll, dass dieser als Grundlage für die daraus zu entwickelnde Bauleitplanung dienen kann.

Im September 2018 präsentierten dann Stadt und RAG Montan Immobilien das Ergebnis des städtebauliche Wettbewerbs. Das Preisgericht unter Vorsitz von Prof. Kunibert Wachten aus Dortmund kürte nach intensiver Prüfung und Diskussion die Arbeitsgemeinschaft O&O Baukunst, NEW Architekten und KRAFT.RAUM Landschaftsarchitektur zum ersten Preisträger des Wettbewerbs. Insgesamt zehn Planungsteams aus Architekten, Stadt- und Freiraumplanern hatten sich an dem von Stadt und RAG Montan Immobilen ausgelobten Verfahren beteiligt. Gesucht wurde das innovativste Konzept für das neue Stadtquartier zwischen Friedrich-Heinrich-Allee und Landesgartenschaugelände.

„THE BEAUTY AND THE BEAST“

So betitelten die Preisträger ihren Entwurf, der die neuen Bauten an der Friedrich-Heinrich-Allee in der Tradition der historischen Großzügigkeit dieser Straße weiter entwickelt, während die parkseitige Bebauung kleinteilig ist und so individuelle Wohnqualität, Dichte und Durchgrünung bietet. Weitere wichtige Aspekte hinsichtlich der zukünftigen Standortqualität wurden ebenso in das Konzept integriert. Im Zentrum der Diskussion stand die Frage, wie industriell geprägte Strukturen mit den notwendigen Freiheitsgraden für eine moderne Quartiersentwicklung zusammengeführt werden können. Im Falle von „The Beauty and the Beast“ betraf dies sowohl den richtigen Umgang mit den historischen Betriebsgebäuden sowie den Fördertürmen. Hier hat auch der Blick auf den Strukturwandelprozeß der vergangenen Jahrzehnte in NRW geholfen: Durch den Umbau der Industriekultur konnten innerhalb der letzten Jahrzehnte viele neue attraktive Stadtquartiere geschaffen werden. Diese prototypischen Erfahrungen gepaart mit dem industriellen Erbe werden nun auch in Kamp-Lintfort genutzt und bilden die Grundlage des städtebaulichen Konzepts des Siegerteams.

Die beteiligten Planer lieben einfache und robuste Stadtkonzepte, die den erkennbaren Stadtumbau ermöglichen. Sie sind Garant für langfristige Stadtplanungen in demokratischen Strukturen und stehen Pate für die Wiedererkennbarkeit der ersten Idee.

Drei Kernfragen werden damit verfolgt:

1. Wie kann man die historische Industriekultur in atmosphärische neue Bilder verpacken und Wohnfor- men anbieten, die sich an traditionelle Bautypologien anlehnen und doch diversifizierte zeitgenössische Ansprüche bedienen? Gibt es heute noch die Prachtstraßen, den städtischen Block oder die Arbeitersiedlung?

2. Was passiert wenn die Mischung von Wohn- und Arbeitsangeboten, die seit Jahrhunderten das Ideal der Europäischen Stadtkultur prägen, in das Heute und in moderne Bauformen überführt werden? Welche Art von Architektur ist notwendig, um Arbeit und Leben wieder miteinander zu verbinden?

3. Wie sieht ein pragmatischer Umgang mit dem Autoverkehr und dem Sichtbarmachen des Parkens aus, wenn sich Mobilität künftig so verändern wird, dass das Auto aus dem Stadtraum verschwindet?

Der Siegerentwurf bietet unterschiedliche stadträumliche Qualitäten und somit unterschiedliche Antworten auf die oben genannten Fragen an. Als „Sunset-Boulevard“ wird die Friedrich-Heinrich-Allee die neue Visitenkarte der Stadt Kamp-Lintfort. Die Straße wird durch großmaßstäbliche Bauten weiterentwickelt: Neben dem klassischen Geschosswohnungsbau sind Lofts, Terrassenhäuser und Maisonetten vorgesehen. Eine Kombination aus Wohnen, Arbeiten und Büronutzungen ist geplant. Das Parken an der Allee findet auf Erdgeschossniveau auf den jeweiligen Grundstücken statt. Im Falle einer Reduzierung des PKW-Aufkommens können diese Räume flexibel ausgebaut werden. Die Bebauung zum weitläufigen Zechenpark hin ist durchgrünt und hat eine angemessene urbane Dichte. Sie zeigt eine klare Stadtkante zum Park im Osten. Die besonderen Wohnqualitäten werden durch eine eindeutige Adressbildung, eine hohe interne Privatheit und eine kostengünstige Realisierbarkeit gewährleistet. Es wird eine Mischung aus Stellplätzen im Straßenraum und in den Blockinnenhöfen angeboten. Eine Unterbringung der Stellplätze in Tiefgaragen ist hingegen nicht vorgesehen. Wohnhöfe am bestehenden Schirrhof schließen das Baugebiet im Süden ab.

Das Quartier selbst ist zentral gelegenen und sehr gut an die Innenstadt angeschlossen. Durch den „Central Park“, den neuen Zechenpark, entsteht eine attraktive Wohnanlage mit grünen Sichtachsen. Die Qualität des neuen Quartiers liegt in seiner heterogenen und urbanen Wohnbebauung, die unterschiedlichen Wohnformen Raum bietet: vom vertikalen Stadtwohnen mit grünen Loggien/Terrassen bis hin zu Reihenhaustypologien mit privaten Gärten sowie naturnahen und kleinteiligen Hofstrukturen im Süden. Darüber hinaus lässt die Gestaltung des Stadtraums durch den Dialog mit der historischen Zechenarchitektur einen hohen Wiedererkennungswert erwarten. Der zentrale Quartierplatz rund um den Förderturm, der das Herz des Quartiers bildet, wird durch gastronomische Angebote ergänzt. Die Belebung der öffentlichen Räume ist durch die variable Nutzbarkeit der Erdgeschosszonen möglich. Sie spiegeln den Bedarf an zeitgemäßen Wohn- und Arbeitswelten wieder, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen: Freiberufliche Tätigkeiten mischen sich mit neuen Arbeitszeitmodellen und den Bedürfnissen von Mehrgenerationenhaushalten. So entstehen Stadtwohnungen, Loftwohnen mit flexiblen Grundrissen, Townhäuser mit kleinen Gärten, Blockbebauungen und naturnahe Hofstrukturen. Die Gestaltungsvor- gaben für diese geplante Neubebauung und für den städtischen Freiraum leiten sich aus dem historischen Kontext des Bestands ab. So profitiert das Gebiet trotz Wandel zum Wohngebiet von der Identität der denkmalgeschützten Bebauung. Bevorzugtes Baumaterial ist Backstein, der nicht nur charakteristisch für Bestandsgebäude ist, sondern auch das Landschaftsbild der gesamten Region prägt. Daher folgen auch die im Stadtraum geplanten und für das Wohnen notwendigen Gestaltungselemente wie private Vorbereiche, Eingänge, Balkone, Fassaden, Dächer etc. dieser Logik in ästhetisch und technisch zeitgemäßer Interpretation.

Der Wettbewerbsentwurf wird im Nachgang zu einem städtebaulichen Rahmenplan mit aufbauender Bauleitplanung konkretisiert. In diesem Rahmenplan ist es von zentraler Bedeutung, alle Fachdisziplinen zu integrieren. Die engmaschige Abstimmung von Nutzungs- und Mobilitätskonzepten, von Städtebau und Architektur sowie des Freiraums ist für die bestmögliche Inwertsetzung der historisch einzigartigen Anlage unentbehrlich. Vor dem Hintergrund der bestehenden Erfahrungen mit der Konversion großmaßstäblicher Strukturen des Montanerbes in Deutschland besteht die Chance, ein visionäres Projekt mit Beispielcharakter für die zukünftige Lebens- und Arbeitsformen in der postindustriellen Gesellschaft zu realisieren. Das neue Quartier wird vom Zechenpark als großes grünes Gegenüber profitieren. Eine höchst attraktive Situation wird entstehen. Der Bauherr wird die Themen der Architektur ernst nehmen, denn es genügt nicht, sich nur auf den stadtplanerischen Schwerpunkt zu verlassen. Es ist wichtig, dass auf dem Gelände für die Region etwas Prototypisches entsteht, das die Wünsche nach Grün und Urbanität verbindet. Dazu sollten die Möglichkeiten der Architektur wie Materialität, Grundrisse, Mischungen genutzt und neue Wege und Wohnformen angeboten werden. Insofern sieht auch die Vermarktung Parzellen unterschiedlichster Größe und Bebaubarkeit vor.

In die Planungen integriert werden sollen auch Ideen aus dem Projekt „Modellquartier Integration“, ein Gemeinschaftsprojekt der RAG Stiftung, der RAG Montan Immobilien und des Wohnbaukonzerns Vivawest, bei dem Quartiere ganzheitlich mit dem Ziel der Integration entwickelt werden – nicht nur, was das Bauen, sondern auch was das Quartiersmanagement und das Miteinander von Menschen angeht. „Auf dem Bergwerksareals in Kamp-Lintfort können wir solch eine Chance nutzen und bestehende Distanzen auflösen. Wir sind uns sicher, dass der Erfolg einer solchen Quartiersentwicklung sowohl sozial als auch ökonomisch nachhaltig sein wird,“ so Markus Masuth, Vorsitzender der Geschäftsführung der RAG Montan Immobilien GmbH.

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AUTORENGEMEINSCHAFT:

RAG Montan Immobilien GmbH (Stephan Conrad), O&O Baukunst (Christian Heuchel),
NEW Architekten (Fritz Keuthen, Michael Weichler), KRAFT.RAUM Landschaftsarchitektur (René Rheims)

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