GESA ZIEMER: DENKEN MIT DATEN

Ungeachtet des Angebots und der Qualität der Lehre oder ihrer tatsächlichen urbanen Qualität gelten Universitätsstädte im Allgemeinen als besonders attraktiv. Jährlich veröffentlichte Rankings unterstützen dieses Bild – und das nicht nur unter potenziellen Studierenden. Wie erklären Sie sich diese „Sogkraft“?

Ich denke, das Thema Wissensstadt ist im Verlauf der vergangenen Jahre zu einem echten Standortthema geworden; und das nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Wir kennen verschiedene Stadtlabels wie Nachhaltige Stadt oder Kreative Stadt, heute ist es oft die Stadt des Wissens. Das wird u.a. auch an dem Bau von Campi deutlich, die ganze Stadtteile als Wissensquartiere ausweisen. Interessant ist, dass es nicht mehr nur altehrwürdige Universitätsgebäude wie beispielsweise solche in Heidelberg oder Zürich sind, die Wissenschaftsstandorte kennzeichnen, sondern Städte heute als Wissensstädte gelten, wenn sie Technologiestandorte sind. In diesem Zusammenhang hat sich auch die Architektur verändert: Im Fokus steht nicht mehr ein charakteristisches Gebäude, sondern komplexe Technologie-Campi mit verschiedenen Forschungseinrichtungen, die sich zu den Städten hin öffnen, z.B. durch neue Mobilitätsformen, Wohnmöglichkeiten, grüne Areale oder ein Vermittlungsangebot für Besucher. Dennoch übernehmen Universitäten im Zuge der Digitalisierung eine wichtige Rolle: Sie produzieren Wissen und sorgen einerseits für den (Wissens-) Transfer, müssen andererseits aber auch zunehmend wirtschaftliche Akteure miteinbinden, Start-ups fördern und die Zusammenarbeit mit Unternehmen stärken.

Im Zuge der Digitalisierung bzw. seit Aufkommen des Internets ist Wissen nicht mehr ortsbezogen. Inwiefern hat diese „Demokratisierung es Wissens“ auch Auswirkungen auf das Image (alteingesessener) Universitätsstädte bzw. auf Städte ohne eigene Universität?

Die klassische Universität, wie wir sie kennen, wird sich langfristig in eine Lernumgebung wandeln, die analog und digital funktioniert. Die digitale Lehre basiert auf der Möglichkeit, dass sich Studierende online in Kurse einloggen, die sie alleine oder in Teams, auch international, belegen. Sie können online Prüfungen absolvieren und so ihre CTS Punkte erwerben. Dieses Angebot gibt es bereits seit ein paar Jahren und wird künftig auch noch weiter ausgebaut werden. Infolgedessen ist das Studium weder an eine bestimmte Stadt noch an ein bestimmtes Land gebunden. Es wird „europäische oder global Studierende“ geben, die ihr Studium nicht mehr an einer oder zwei Universitäten abschliessen. Diese Entwicklung wird langfristig auch Auswirkungen auf unsere Berufsprofile haben, die wir entsprechend anpassen müssen: Ein Jurist, der sein Examen vor fünf Jahren hier in Deutschland absolviert hat, wird sich grundsätzlich von dem Juristen unterscheiden, der sein Examen in zehn Jahren vielleicht ortsunabhängig im globalen Kontext absolvieren wird.

Bringt diese neue Ortsunabhängigkeit denn auch Nachteile, die wir berücksichtigen müssen?

Defintiv. In Europa ist es gängige – und meiner Meinung nach – gute Praxis, dass wir bisher ein Angebot aus digitalen und analogen Kursen anbieten. Zu unserem humanistischen Bildungsideal gehört der persönliche Kontakt zum Lehrenden, der kommunikative Austausch und das soziale Miteinander. Damit gehen andere Kulturen etwas anders um, in Asien oder auch in den USA beispielsweise wird Technologie oft schneller adaptiert und etwas weniger kritisch angewendet.

Was bedeutet das für uns Europäer? Müssen wir uns anpassen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und nicht den den Anschluss zu verpassen?

Jein. Ich bin keine Gegnerin unserer kulturellen Disposition. Allerdings denke ich, dass unsere Kinder an unseren Schulen viel zu wenig in Bezug auf Digitalisierung lernen: Grundlagen des Programmierens, den Umgang mit Daten und vor allem sozialen Medien müssten früher und grundständig in den Lehrplan integriert sein. Daten steuern unseren Alltag massiv und man muss lernen zu verstehen, wie das geht. In Ländern wie Indien oder China kommen Kinder schon in den KiTas und Grundschulen mit Programmieren in Berührung. Wieso nicht auch in Deutschland? Einen Algorithmus zu verstehen, gehört meiner Meinung nach heute längst zum „Gesellschaftswissen“. In diesem Punkt hinken wir in Deutschland deutlich hinterher.

Das CityScienceLab wurde 2015 als neue Forschungseinheit der HCU gegründet. Welche Gründe gab es hierfür und welche Aufgaben übernimmt es?

Das CityScience Lab ist eine Kooperation mit dem MIT in Cambridge (USA). Es wurde in Hamburg gegründet, weil die Stadt innerhalb Europas die Stadt mit den größten innerstädtischen Flächenentwicklungspotenzialen ist. Unser damaliger Bürgermeister, Olaf Scholz, war davon überzeugt, dass Stadtentwicklung nicht mehr top-down funktioniert, sondern auf Bürgerbeteiligung angewiesen ist. Solche Prozesse funktionieren nicht ohne entsprechende Instrumente, die wir als CityScience Lab entwickeln. Wir bauen interaktive, datenbasierte Stadtmodelle (sog. City Scopes), mit denen man urbane Zukunftsszenarien simulieren kann. Wir visualisieren Daten auf Touchtischen, anhand derer man über Themen wie Mobilität, Wohnungsbau, Grünflächen, Kultur, Migration etc. diskutieren kann. Olaf Scholz wollte auch das Thema „Stakeholder-Beteiligung“ weiterentwickeln, sprich die digitale und interdisziplinäre Vernetzung aller Behörden, mithilfe derer Stadtentwicklung beschleunigt werden kann. Es ging darum, Dialoge zu initiieren und das „Miteinander“ zu stärken. Wir machen Gesprächsangebote und nennen unserer Werkzeuge auch decision support systems; sie sollen Entscheidungshilfen sein. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung untersuchen wir, wie sich unsere Städte künftig durch den Einsatz von Daten verändern bzw. wie sich unser Verhalten verändert, wenn wir in Städten zunehmend von Daten gesteuert werden.

Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit zwischen CitySciene Lab und kommunaler Seite?

Interessanterweise funktioniert die Zusammenarbeit hier in Hamburg sehr gut. Darum beneiden uns auch viele andere Kommunen. In Hamburg herrscht eine starke Kooperationskultur. Viele Projekte haben kommunale Partner. Wir arbeiten z.B. eng mit der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen zusammen und entwickeln gemeinsam das Digitale Partizipationsmodell (DIPAS). Überall dort, wo in Hamburg gebaut wird, findet Bürgerbeteiligung statt, die wir durch unsere Tools unterstützen. Unser zweiter wichtiger Partner ist der Landesverband für Geoinformation und Vermessung, der uns die öffentlichen Daten zur Verfügung stellt, die wir zur Entwicklung unserer Tools benötigen. Was uns in Hamburg zugute kommt, ist der qualitativ hochwertige Datenbestand und das Transparenzgesetz. In anderen Städten werden Daten oft sehr viel dezentraler behandelt und es gibt keine Schnittstellen. Das erschwert die Arbeit immens. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, den Städten und den beteiligten Akteuren die Vorteile zu verdeutlichen, die die Sammlung und Offenlegung bestimmter Daten mit sich bringt – natürlich immer unter Berücksichtigung der in Deutschland geltenden Regeln zum Datenschutz.

Wenn die digitale Planung städtischer Entwicklung von der Sammlung und Evaluierung solcher Datensätze abhängig ist, sind Daten dann das „moderne Wissen“ des digitalen Zeitalters?

Auf jeden Fall. Ich bezeichne den Prozess immer gerne als „Denken mit Daten“. Wir müssen erst noch lernen, mit Daten auch kreativ umzugehen, d.h. sie nicht nur im Hinblick auf Quantität zu erheben und auszuwerten, sondern auch im Hinblick auf ihre Qualität. Interessant ist, dass interdisziplinäres Denken und Handeln zunimmt. Wir können plötzlich z.B. soziale Daten mit Verkehrsdaten oder Flächendaten kombinieren. Das war so früher nicht möglich. Dies erfordert ein anderes Denken und Handeln in der Stadtentwicklung. Auch haben Behörden kein Hoheitswissen mehr über Daten, auch die Bürger können auf diese Daten zugreifen: Welche Aussagen lassen sich also unter den neuen Gegebenheiten für das Thema Stadtentwicklung ableiten? Welche (weiteren) Fragen haben wir an die Datensätze? Das ist ein Prozess, den wir alle erst noch lernen müssen. Darüber hinaus fehlen uns bisher auch Daten, da wir noch keine geeigneten Erhebungsinstrumente haben. Wie messen wir z.B. „Lebensqualität“ oder die „Attraktivität von Grün- und Freiräumen“?

Muss insofern nicht auch erst innerhalb Gesellschaft ein Bewusstsein für das Potenzial von Daten entwickelt werden?

Defintiv. Aus diesem Grund arbeiten wir sehr viel mit visuellen Karten auf unseren City Scopes. Diese müssen leicht verständlich und sofort anwendbar sein. Oft zeigen wir auch einfach den IST-Zustand innerhalb einer Stadt: Wie viele Grünflächen hat Hamburg? Wie viele öffentliche und private Flächen gibt es? Wie verläuft der Verkehr durch eine Stadt? Wo befinden sich die großen Wohnungsbauprojekte und welche Auswirkungen haben sie auf die soziale Infrastruktur, den Verkehr, die Luftqualität etc.? Die Möglichkeit, sich diese Aspekte und ihr Zusammenwirken ansehen zu können, bewirkt unter den Einwohnern schon sehr viel. Daher sind unsere Touch-Tables auch öffentlich zugänglich. Einige stehen hier bei uns im CityScience Lab. Mit unseren mobilen Varianten gehen wir an die Orte des Geschehens, wie in Bürgerhäuser oder sie werden je nach Bedarf bei Bürgerwerkstätten und Partzipationsverfahren eingesetzt.

Denken Sie, dass solche Instrumente auch das Interesse unter Laien für Stadtentwicklung steigern?

Das hoffe ich. Sofern solche Tools nur in Universitäten oder anderen Institutionen zugänglich sind, erfolgt automatisch eine soziale Selektion. Das möchten wir aufbrechen. Daher gehen wir mit unseren Tools „raus“ und gestalten sie so niederschwellig wie möglich, so dass Stadtentwicklung für alle Bürger/innen greifbar wird. Das hat natürlich auch viel mit Design und guten Interfaces zu tun. Wir arbeiten auch mit Kombinationan aus analogen und digitalen Herangehensweisen, z.B. auch mit Legosteinen, die jede/r gerne in die Hand nimmt und anfängt diese in der virtuellen Stadt auf dem Touch Table zu platzieren.

Und wie erfolgt schlussendlich die erfolgreiche Transformation der Szenarien in die Realität?

Die o.g. Tools werden an ganz unterschiedlichen Stellen eingesetzt. In Hamburg gibt es z.B. seit vielen Jahren die Stadtwerkstatt mit Bürgerbeteiligung, die online und vor Ort erfolgt. An dieser Stadtwerkstatt können sich je nach Fragestellung schon mal zwischen 5.000 und 6.000 Bürgerinnen und Bürger beteiligen. Die Ergebnisse werden geclustert, ausgewertet und an die Planer des jeweiligen Projekts weitergegeben. Allerdings gibt es bis dato noch kein Gesetz, das festsetzt, dass Ergebnisse einer Bürgerwerkstatt verpflichtend berücksichtigt werden müssen. Juristisch gesehen handelt es sich lediglich um eine „Empfehlung“. Allerdings zeigt die Praxis auch, dass nur wenige Planer solche Ergebnisse nicht berücksichtigen. Unser Ziel ist es, unsere Tools relativ früh einzusetzen, sodass auch der Dialog früh initiiert wird. Das hat viel mit Meinungsbildung und Demokratie zu tun und ist gerade momentan –  in einer Zeit, in der man doch eine gewisse Spaltung der Gesellschaft beobachten kann – wichtiger denn je.

Auch wenn die Stadt Hamburg sozusagen primär das „Living Lab“ ist, in dem Sie Ihre Tools anwenden, inwiefern ist das CityScience Lab denn auch überregional aktiv?

Das CityScience Lab ist in Hamburg sehr aktiv. Durch unsere Kooperation mit dem MIT und das weltweite City Science Netzwerk sind wir aber auch in internationale Projekte eingebunden. Wir kooperieren mit Akteuren in Südamerika, Andorra, Helsinki, Shanghai etc. Darüber hinaus arbeiten wir mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, mit der wir Projekte in der Ukraine und in Indien ausloten und betreuen. Konflikte in Ländern haben fast immer mit Flächen und Ressourcen zu tun, In Indien entwickeln wir ein Open City Toolkit, ein City Scope, mit dem man die Herausforderungen rasanter Urbanisierung indischer Großstädte diskutieren kann. Dies soll zukünftig auch in Ecuador getestet werden. Darüber hinaus werden wir künftig mit der UN zusammenarbeiten und in Hamburg ein UNTIL (United Nations Technology und Innovation Lab) aufbauen, das wir an unser CityScienceLab andocken. Schwerpunkt dieses Labs werden Megastädte sein, denen es an  funktionsfähiger Infrastruktur mangelt, in denen beispielsweise der Verkehr zusammengebrochen ist oder viele Menschen in Slums leben. Vor diesem Hintergrund veranstalten wir auch am 1. Und 2. Oktober in Hamburg den City Science Summit zum Thema “Cities without…” zu Themen wie Mobility without cars, Housing without houses, Learning without schools etc.

Übernimmt das CityScienceLab somit nicht nur Aufgaben in Bezug auf Stadtentwicklung, sondern auch in Bezug auf gesamtgesellschaftliche Prozesse?

Definitiv. Dieser interdisziplinäre Ansatz spiegelt sich auch in unserer Mitarbeiterstruktur wider. Unser Team besteht aus Informatikern, Planern und Architekten, aber auch aus Kultur- und Sozialwissenschaftlern und Design. Diese Schnittstellen sind mir sehr wichtig und durch sie kommen o.g. Fragestellungen auch erst zum Tragen.

Sie selbst haben erst kürzlich eine Keynote zum Thema Digitalisierung und Gesellschaft gehalten. Was ist mit solchen Menschen, die entweder keinen Zugang zum digitalem Wissen haben oder mit der Angst leben, künftig das Nachsehen in einer digitalisierten Lebenswelt zu haben? 

Die Spaltung der Gesellschaft durch die Digitalisierung ist ein ganz großes Thema – besonders in Deutschland, weil wir hier besonders „datenkritisch“ sind. Das liegt mitunter auch an unserer historischen Vergangenheit: Nach den Erfahrungen der Weltkriege und der DDR sind wir ggf. etwas sensibler, was das Thema Daten und Datenerfassung anbelangt. Daher ist es nun unsere Aufgabe, die Vorteile aufzuzeigen, die sich aus der Sammlung von Daten ergeben und welche guten Entwicklungen in Gang gesetzt werden können, wenn wir Daten kreativ und proaktiv nutzen. Darüber hinaus müssten Angebote für die Generationen entwickelt werden, die nicht als „Digital Natives“ aufgewachsen sind, sodass sie überhaupt erst in die Lage versetzt werden, Digitalisierung inkl. ihrer Vor- und Nachteile zu verstehen. Natürlich bieten einige Volkshochschulen entsprechende Kurse an, doch bisher gibt es keinen Ort, wie z.B. eine Senior Academy, an dem sich diese Generationen systematisch fortbilden können. Mit Blick auf unseren Gesprächsbeginn: Auch so eine Einrichtung gehört zu einer Stadt des Wissens.

Im Hinblick auf diese vielfältigen Aspekte: Wo stehen unsere Städte und wir als Gesellschaft in zehn Jahren?

Unsere Städte und unsere Gesellschaft werden digitaler und datenorientierter. Demokratisch organisierte Städte werden auch weniger hierarchisch organisiert sein. Co-Work, Co-Housing, Co-Design etc. sind die Trends der Zukunft. Stadtentwicklung wird zunehmend aus der Bürgerschaft heraus initiiert und co-designed. Darüber hinaus wünsche ich mir persönlich, dass wir noch dialogorientierter arbeiten als heute und diese Dialoge wieder an Qualität gewinnen. Meckern zählt nicht, sondern „besser machen“! Vereinfachender Populismus bring niemanden weiter. Sofern wir künftig gemeinsam offen und ehrlich über die Komplexität von Städten diskutieren und dieses Wissen untereinander teilen können, ist dies ein guter und wichtiger Schritt in puncto Demokratieerhaltung.

Das ist ein gutes Schlusswort. Vielen Dank für dieses inspirierende Gespräch.

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