CHRISTIAN SCHÜLE: DIE SEHNSUCHT NACH GEBORGENHEIT

© Markus Röleke

Heimat und Familie haben vieles gemein. Beide prägen, beide geben Halt, beide sind manchmal bedrückend, beide können schmerzvoll verloren gehen. Und beide haben die gleiche Voraussetzung: Vertrautheit. Durch Vertrautheit mit familialen Umständen wächst heimatliches Vertrauen in den guten Gang der Dinge. Das lateinische Adjektiv familiaris lässt sich ja wie folgt übersetzen: „zum Haus gehörig“ im Sinne von „geläufig“ wie auch „vertraulich“. Das Wort  familia bedeutet, aus dem Lateinischen übersetzt, die „Vertrauten“. Heimat ist also immer schon mehr als nur Boden, der Kirchturmglockenschlag, die Gerüche der Nachbarswiese oder der Zeche nebenan. Es ist eine in sich aufgespürte, manchmal unwillkürliche Erinnerung an erfahrene Geborgenheit. Insofern bieten Heimat als auch Familie dem Einzelmenschen das Gleiche an: Intimität und Identität.

Genau diese Geborgenheits- und Identitätsräume kommen seit einiger Zeit mehr Menschen als gedacht abhanden. Was die westlichen Industriegesellschaften in den vergangenen Jahren an Wandlung, Zerfall und Verlusten zu verkraften hatten, führte nicht nur zu einer wachsenden Zahl an Depressionen, Angststörungen und Erschöpfungszuständen, sondern auch zu politisiertem Heimatschutz und dem nationalchauvinistischen Versuch der Aufwertung des Eigenen durch die Abwertung des Fremden. Der gefühlte Verlust der Heimat ist ja kein realer Verlust der Straße, des Dorfs, des Bergs oder Flusses; es ist der innere Verlust sozialer Normen, angestammter Rituale und Gewohnheiten im Furor des Verschwindens. War die Bundesrepublik für viele über Jahrzehnte hinweg ein national-familialer Geborgenheitsraum, dessen gemeinsam beglaubigte Normen eine plausible Verbindlichkeit hatten, haben sich die Gewissheiten in kurzer Zeit aufgelöst. Die technologische Entwicklung der Verkleinerung und Beschleunigung hat zu einer immer größeren Verdichtung der Räume und der Zeit geführt, was oft in sozialem Stress, in Aggression und gestörter Affektkontrolle resultiert. Es gibt keine allgemein geteilte Erzählung über die Wirklichkeit mehr, nur noch Fragmente von Wirklichkeitswahrnehmungen in unversöhnlichen Echokammern. Die Milieus sind zersplittert, die Schutzmächte zerfallen und die lange Zeit haltgebenden Institutionen – Parteien, Gewerkschaften, Kirchen – in einer fundamentalen Krise. Egozentrik und Egoismus des radikalen Individualisten, der von Eigenverantwortung und Selbstermächtigung oft genug überfordert ist, sind die Triebkräfte eines Narzissmus, der ebenso dünn wie kränkbar ist. Die Bedrohung der Heimat durch den rasant beschleunigten technologischen Transformationsprozess löst für überraschend viele Mitbürger Verlustängste aus. Sie suchen sich neue Familien – entweder solche, die Heimat notfalls mit Gewalt zu schützen vorgeben, oder jene, die sich durch Zugehörigkeit zu einer spezifischen Community definieren und mit ihren Spezial-Identitäten nicht anschlussfähig sind. Es ist also weit mehr als nur eine konservative Sehnsucht nach bewährter Tradition, wenn gerade dieser Tage, da es immer weniger reale Begegnungsräume gibt, von großen Schutzbedürfnissen des Einzelnen gesprochen wird – als fühlten sich immer mehr selbstbestimmte Individuen in den Stromschnellen des permanenten Wandels isoliert, verloren und entwertet.

Wir sollten, meine ich, Heimat künftig soziokulturell verstehen und im Plural denken. Nicht als Definition nationaler Identität auf einem Boden, sondern als dynamischen Prozess, in den sich jede und jeder einschreiben kann und soll, die und der sich zur entsprechenden Zeit legal auf dem Rechtsgebiet der Bundesrepublik aufhält. Im Sinne eines sozialen Beheimatungsprozesses könnte man unter Heimat das geistige Obdach jener Wert- und Normvorstellungen begreifen, durch die gemeinsame Ziele verabredet und der gelebte Alltag als gelebte Leitkultur erfahren wird – ‚Leitkultur‘ im Sinne kultureller Wertvorstellungen, die uns alltäglich leiten. Ohne Loyalität des Bürgers, ohne Wille des Einzelnen zur Selbstverantwortung in Gemeinschaft, kann eine Gesellschaft zwar funktionieren, aber keine Zusammengehörigkeitsidee entwickeln. Jede freie und freiheitliche Regierungsform bedarf zu ihrer guten Reproduktion einer starken Identifikation vonseiten ihrer Bürger – das ist vor lauter Empörungsideologie ein wenig in Vergessenheit geraten.

In mittlerer Zukunft wird es weit stärker als bisher auf die Fähigkeit zur Kooperation ankommen. Auf die individuelle Kompetenz, mit unvermeidbarer wie auch gewünschter Diversität ebenso umgehen zu lernen wie mit Pluralität und Ambivalenz: mit widersprüchlichen Haltungen und Gefühlen, gegensätzlichen Weltanschauungen und unversöhnlichen Glaubensformen. In den superdiversen Städten und Kommunen der Zukunft, da über 60 kulturelle Geschlechter, über 200 oder gar 300 Nationalitäten, zahlreiche Religionsgruppen, Glaubensgemeinschaften, Kleinkollektive und einander vielleicht bekämpfende Bewegungen auf immer enger werdendem Raum zusammenleben werden, treffen unterschiedliche Moralen, Sitten, Energien und Hoffnungen aufeinander, während zugleich in ländlichen Strukturen Buslinien, Postfilialen, Gasthöfe und Jugendzentren geschlossen werden oder verwahrlosen.

Als Prozesse familialer Beheimatung wären Heimaten künftig dort gegeben, wo man sich versteht und verständigt, wo man sich durch Verstehen geborgen und anerkannt fühlt, wo Gewohnheiten über die Zeit hinweg gegenseitiges Vertrauen begründen. Seit einigen Jahren kehrt die Idee der kleinen Einheit zurück: der soziale Verbund in urbanen Gemeinschaftsgärten, Nachbarschafts- und Kommunalquartieren, Kooperativen oder beispielsweise Polikliniken, die nicht nur medizinische Stadtteilgesundheitszentren sind, sondern ein Nahraum, in dem Ärzte, Anwälte und Sozialwissenschaftler auf ihre Art untersuchen, wie sich beispielsweise Wohnverhältnisse, Einkommen, Infrastruktur, Versorgung und Bildung auf den Gesundheitszustand der Bewohnerinnen und Bewohner auswirken. Es geht um Zukunft, nicht um Herkunft, und es geht um eine Werteverlagerung, die zunehmend mehr Angehörige der Generationen Y und Z anzieht: Nicht das verwertbare Produkt ist entscheidend, sondern der wertschöpfende Prozess gemeinsamer Herstellung; nicht Geld und Effizienz sind für das gute Leben entscheidend, sondern Zeit, Selbstbestimmung und Teilhabe durch Teilnahme. Vorausschauende Politik wie auch kluge Stadtplanung würden diese Wertverlagerung zum Ausgangspunkt einer nächsten Vision machen, in der Heimat stets aufs Neue konstruiert werden kann – als das, was sich auf Dauer durch sich selbst bewährt.


CHRISTIAN SCHÜLE

studierte Philosophie, Soziologie und Politische Theorie an den Universitäten München und Wien. Er war Redakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT, wurde für seine Texte mehrfach ausgezeichnet und lebt jetzt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Er leitete Thinktanks zu den Grundlagen der nächsten Gesellschaft und nimmt in Vorträgen und politischen Feuilletons regelmäßig Stellung zu politischen und kulturellen Themen. Seit 2015 hat er einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Berliner Universität der Künste. Unter seinen bislang 11 Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ sowie die Essays „Deutsch- landvermessung“, „Vom Ich zum Wir“ und „Heimat. Ein Phantom- schmerz“ und zuletzt das Debattenbuch „In der Kampfzone“.

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