2011 bereiste ich das erste Mal das sozialistische Vietnam, wo ich sofort mit einem wilden Karussell mitgebrachter Vorstellungen und vorhandener Realität konfrontiert wurde. Von Peking anreisend, wo ich die letzten zehn Jahre verbrachte, ist Hanoi eine höchst bunte und vibrierende Angelegenheit aus Alt und Neu. Jugendstil, Kolonialarchitektur im Zentrum der Stadt, umgeben von einer Großstadt, die dank großspurig global-uniformer Verkehrsadern einem nicht besonders fremd vorkommt. Diese Verkehrsadern sind wie so oft in Asien hoffnungslos verstopft mit allem, was Räder hat. Grundsätzlich ist die Anzahl der Räder an den herumrasenden Vehikeln kleiner als die der in China. Hier in Hanoi herrschen zwei- und dreirädrige knatternde, flotte Dinger vor. Was mich, aus China anreisend, zuerst verwunderte, ist die Tatsache, dass es sich scheinbar um Vespa-Roller-Originale handelt, doppelt und dreifach besetzt – ganz in italienischem Stil, von jungen, proper gekleideten Männern und Frauen mit modischen Helmchen oder tatsächlich von älteren Herren mit Tropenhelmen, welche ihren Ursprung aus der Besatzungs- oder Kolonialzeit haben. Die Innenstadt von Hanoi, sichtbar geprägt von französischer Kultur, hat relativ unbeschadet den Krieg uberstanden, der im Land noch spurbar nachklingt.
Hanoi ist schnell und langsam zugleich. Die Stadt vibriert, rennt und rast. Das Strassenbild wechselt nach Tageszeit. Keine Gasse, die nicht im Laufe des Tages von Marktgasse zu Strassenrestaurants umgewandelt wird. Geschäfte, die tagsüber Fahrradreifen flicken, bieten Abends selbstgekochtes an. Der im Süd-Ost Asiatischen oft zu findende schmale Geschäftshaustypus, mit einem offenen, tief im Schatten liegenden Erdgeschossbereich und darüber befindlichen Lager- und Wohnbereichen herrscht hier im Jugendstil vor. Hier wohnen und arbeiten alle Generationen gemeinsam. Diese Häuser lehnen Wand-an-Wand, und variieren stark in Farbe, Design und Höhe. Die Parzellen dieses Haustypus sind entsprechend schmal und tief und werden komplett überbaut. Es scheint eine Art Höhenbeschränkung zu geben, die meisten der Häuser der Innenstadt beschränken sich auf drei, vier oder fünf Geschosse. Nur vereinzelt steht auf ebendiesen schmalen Parzellen auch mal ein entsprechend schmales Haus, welches beängstigend höher sein kann. Mein Hotel beispielsweise war an die 10 Geschosse hoch, und so schmal, dass ich mir fast Sorgen machte umzufallen.
Dazwischen finde ich immer wieder die von mir dankbar aufgesuchten Kaffeehäuser, in denen die Zeit sich so langsam und träge bewegt, wie die Ventilatoren an der Decke. Die offenen Cafés an den Strassenkreuzungen bieten hierbei den besten Ausblick. Im strategisch wohlplazierten Strassencafé, auf knöchelhohen Plastikhöckerchen: mit einem papp-süssen vietnamesischen Kaffe in der Hand, braust die Stadt nonchalant an mir vorbei, ohne sich auf der speziellen Kreuzung irgendwie ins Gehege zu kommen. Diese Strassenkreuzungen sind wunderbare Beobachtungsposten, den städtischen Raum zu erleben, man sitzt ja knietief drin. Der öffentliche Raum hier befindet sich in einem in Schwellenländern oft zu findendem Stadium der Zwischennutzung: der eigentlich öffentliche schmale Fussweg wird okkupiert von Auslagen und Aktivitäten der Geschäfte und von geparkten Mopeds, sodass Fußgänger gezwungen sind, auf der Strasse zu laufen. Dies macht die Erkundung zu Fuss zu einem Abenteuer.
Wenn ich in eine fremde Stadt komme, versuche mir einen Überblick zu verschaffen indem ich meiner kleinen Routine folge: ich suche zuallererst ein Zentrum. Ein Café, eine Bar, ein Strassenrestaurant. Hier beobachte ich die nähere Umgebung, am besten über ein kühles Getränk hinweg, oder durch den Dampf einer heissen Tasse hindurch – mit Abstand. In den folgenden Tagen ziehe ich dann Kreise um das Hauptquartier, zuerst zu Fuss, dann mit Taxi, Bussen, Motorrad-Taxis. Einer meiner Architektenkollegen in Peking frage mich kurz vor meiner Vietnamreise, wohin ich gehen werde. Hanoi sagte ich, getreu meiner Absicht, dieser Stadt mit offensichtlich schwäbischen Wurzeln – ich bin Schwabe – endlich einmal meine Aufwartung zu machen. Wie lange ich zu bleiben gedenke? Das wusste ich noch nicht. Eine Woche, vielleicht zwei, bis ich dann woanders hinfahren wolle. Das rief grosses Erstaunen hervor. Zwei Tage genügen sagte er weltmännisch, dann hätte ich Alles gesehen. Ich kann dazu sagen, dass ich in der Zeit, die ich in Hanoi verbrachte, sehr viele Menschen sah, die meinen Kollegen anscheinend wörtlich genommen hatten: Eilend rucksacktragende Reisende, die Vietnam, Kambodscha und Thailand in 6 Tagen bereisen, ohne sich und dem Ort Zeit zu geben.
Ich verfolge eine andere Strategie. Ich nehme mir Zeit. Ich sitze solange in einem Kaffeehaus, bis der Wirt die Bestellung bringt, ohne gefragt zu sein. Im Laufe der Tage nimmt der Abstand naturgemäss ab, ich komme dann langsam mit Menschen ins Gespräch, Details werden sichtbar, Unterschiede und Gemeinsamkeiten treten hervor. So lerne ich Menschen und Orte kennen.
Johannes Reinsch – Schaffender
Als unser Büro im Jahre 2008 aus einem internationalen Architekturwettbewerb für die Zentralverwaltung der Vietnamesischen Zementindustrie (VICEM) als Sieger hervorging, war die Euphorie gross und die Freude in Hanoi ein Grossprojekt bauen zu dürfen kannte keine Grenzen. Auch als dann nach einer intensiven Verhandlungsphase von über zwei Jahren der Vertrag endlich geschlossen wurde war die Faszination und der Tatendrang ungebrochen. Mittlerweile sind sechs Jahre vergangen, tausende von Plänen gezeichnet und erst zwei Geschosse von 35 gebaut. Spätestens hier wird uns bewusst, dass in Vietnam die eigenen Vorstellungen und Erfahrungen bedeutungslos sind und man sich mit den lokalen Gegebenheiten arrangieren muss. Dabei ist es entscheidend die Andersartigkeit als solche zu akzeptieren und nicht im Vergleich zu bewerten, da dies nur zu Frustration oder Resignation führt und das Eintauchen in die andere Kultur verhindert.
So ist es durchaus gewöhnungsbedürftig, wenn wir in Verhandlungen vor Ort mit unseren zehn Gesprächspartnern mehrere Stunden lang in einem kleinen Besprechungsraum ohne Fenster sitzen, in dem alle vietnamesischen Anwesende begeistert rauchen – und wobei wir immer positiv und konstruktiv zu bleiben versuchen.
Auf der anderen Seiten ist es berührend, wenn man nach getaner Arbeit von einem Mitarbeiter des Auftraggebers in dessen Privatwohnung eingeladen und dort wie ein Familienmitglied aufgenommen wird. Es sind Momente die sich wie ein buntes Mosaik im Laufe der Zeit zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Momente wie die buddhistische Zeremonie vor den ersten Testbohrungen auf der Baustelle, die das Eindringen in den Mutterboden zelebriert und das Bauprojekt und die daran Beteiligten vor Unheil schützen soll. Ein Auftraggeber, der ein Vermögen mit dem Verkauf von Gasflaschen gemacht hat und damit in die Entwicklung von Immobilien einsteigt, der uns beauftragt und dies mit einem fulminanten Essen begeht, um dann jedoch noch vor Beginn der Arbeiten das Verhältnis gleich wieder zu lösen. Ein Professor, der zu Besprechungen in eine Ginseng-Schnaps-Kneipe lädt, in der man auf winzigen Holzschemeln sitz und neben Schnaps und Tee auch Bratwurst mit Senf serviert bekommt. Die Grundsteinlegung mit schier endlosen Reden die auf uns wie eine Wahlkampfveranstaltung aus dem letzten Jahrhundert wirkt, hat im Taumel der Veranstaltung bei vierzig Grad, unserer Vorstellung von Anlass und angemessener Kleidung, Konfetti, Luftballons, und einer Art Baumaschinen-Ballet einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Hier wird deutlich, dass unserer Zeitvorstellung, unsere wohlkalkulierten Projektablaufpläne und unsere mitgebrachten Vorstellungen von Projektmanagement in Vietnam keine allzu grosse Bedeutung haben. In Vietnam braucht es mehr Geduld und Beharrlichkeit, als wir es uns vorgestellt hatten. So haben wir 2007 den internationalen Wettbewerb für die Vietnam News Agency gewonnen, bei der wir mit einem lokalen Partner angetreten sind, der jedoch ohne unser Wissen mit einen eigenen Alternativentwurf angetreten ist und diesen, nachdem wir gemeinsam gewonnen hatten, beim Bauherrn durchgesetzt und schliesslich ohne unsere Beteiligung gebaut hat.
Neben all dieser Erlebnisse und Erfahrungen ist es aber nicht zuletzt auch die Herzlichkeit der Menschen und die unvergleichliche Atmosphäre Hanois aus der eine tiefe Verbindung entstanden ist.
Unser aktuelles Projekt wird von unserer Seite mit grossen Einsatz, Enthusiasmus und Energie geführt, was vom vietnamesischen Auftraggeber manchmal mit vollkommener Selbstverständlichkeit quittiert wird. Der aktuelle Erfolg gibt unserer Beständigkeit recht: seit Beginn des Projektes vor sechs Jahren sind wir nun am dritten Obergeschoss.
Falk Kagelmacher wirkt seit über 14 Jahren in Asien, zumeist in China, wo er unter Anderem am Chinesischen Bauministerium im Bereich Stadtentwicklung in China tätig ist. Derzeit pendelt er zwischen München und Chongqing, der grössten Stadt der Welt, wo er Architektur und Städtebau an der Universität Chongqing lehrt.
Johannes Reinsch ist Managing Partner von KSP Jürgen Engel. Er ist seit mehr als 10 Jahren in Asien aktiv, wo er unter anderem die Niederlassungen in Peking und Hanoi aufgebaut hat. KSP Jürgen Engel International arbeitet standortübergreifend von Frankfurt aus an internationalen Projekten und ist seit 2008 mit Projekten in Vietnam tätig.
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