STADT WEITER DENKEN // NEUE TOPOLOGIEN VERZWEIFELT GESUCHT

D8 – Slim City Seestadt Aspern Wien, 2011-2014 © PPAG architects

Worum es etwa geht, ist bekannt: Digitalisierung, Automatisierung, Mobilität befinden sich in dynamischen Prozessen mit offenem Ausgang. Leider auch der Klimawandel, was uns zu nachhaltigem Handeln verpflichtet, auch wenn der Begriff gar nicht so einfach zu fassen ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Als Folge und Erfolg von hundert Jahren Demokratie in den westlichen Ländern hat sich das Selbstbewusstsein der BürgerInnen entwickelt. Man will heute mitreden, mitgestalten, mitentscheiden, und man will in einer Abwehrreaktion gegen die Entfremdung von Arbeit und Produktion wieder selber machen. Die Heterogenisierung der Gesellschaft, die Individualisierung der Lebensvorstellungen gehen damit einher. Den Lieblingsadressaten der noch immer in großer Zahl gebauten konventionellen Wohnungen, die klassische Kernfamilie, gibt es kaum mehr. Die Propagandamaschinen schießen am Ziel vorbei, das Wohnen befindet sich in raschem und ständigem Wandel. Die Grenzen zwischen öffentlich und privat oszillieren. Die Notwendigkeit von Besitz wird im Zeitalter des Teilens relativ.

Das Vokabular, mit dem wir die Morphologie der Stadt beschreiben, ist längst veraltet. Haus, Straße, Platz sind keine gesonderten Kategorien mehr, ein Haus darf gleichzeitig Platz sein.

Urbanität und Wildnis an einem Ort bilden in der Stadt des 21. Jahrhunderts keinen Widerspruch mehr, (Bienen geben in der Stadt aufgrund der höheren Biodiversität bis zu 50 Prozent mehr Honig).

Nach der Funktionstrennungskonsequenz der Moderne gibt es wieder Mischkomplexe. Mehr noch geht es um Überlagerung, Übergang, Ambiguität, um Fluidität, um das Sowohl-als-auch, eigentlich die historisch ältere Idee von Stadt. In der Stadt gibt es möglichst überall möglichst alles, und das nah.

Und wir sollten eine positive Vorstellung von Dichte entwickeln. Menschen sind gern dort, wo schon Menschen gern sind, was dann wohl ein guter Ort sein muss. Die beliebtesten Wohngegenden sind jene, die so dicht bebaut sind, dass man die Nachbarn sieht, hört und riecht. Menschen haben eher nichts gegen Dichte an sich. Wir müssen nur neue Formen dafür finden.

Für all das, für diese komplexen Anforderungen brauchen wir neue Modelle. Wir brauchen neue Lösungen, neue Typologien als städtebaulich-architektonisch-räumliche Antwort auf die Herausforderungen der Zeit.

Urban Hill

Ein tauglicher Typus ist der eines urbanen Berges, dessen Umriss sich aus einer Schnittmenge von allgemeinen Qualitätskriterien wie Sichtverbindungen und Belichtung des eigenen und der umgebenden Nachbargrundstücke und aus der Bauordnung ergibt. Innerhalb dieses qualitätssichernden Volumens können sich in der Folge unterschiedliche Architekturen etablieren. Die Baumasse befindet sich großteils nicht, wie bei der klassischen Blockrandbebauung, entlang der Straße, sondern in der Mitte des Grundstücks. Die vom höchsten Punkt sanft abfallenden Hänge bilden kommunizierende Höfe nach allen Seiten, mit guter Aussicht für alle. Die Nutzungen des gemischt genutzten Volumens liegen je nach Lichtbedarf: Wohnungen, Büros etc. an der Fassade, Nahversorgung, Markt, Sport, der Ikea vom Stadtrand etc. im Innern. Verbunden wird alles durch einen räumlich reichhaltigen inneren Straßenraum (Klimawandel!) mit wohnungsergänzenden Gemeinschaftseinrichtungen, Plätzen und Treffpunkten für Kommunikation. Außen gibt es rundum große Terrassen, der Schrebergarten liegt so direkt vor dem Haus. Vom Aspekt der energetischen Nachhaltigkeit ist die dichte Packung des tiefen Hauses mit einem ausgezeichneten A/V-verhältnis vorteilhaft. Die Idee der Stadt in der Stadt, die möglichst viel Wohnungsnähe anbietet, wird durch lokale Nahrungs- und Energieversorgung usw. konsequent weitergedacht. Die Wohnungen so divers wie möglich anzubieten, entspricht dem Bedarf.

D8 Slim City – Seestadt Aspern Wien, 2011-2014 © Wolfgang Thaler

Urban Sponge

Der klassische Blockrand, wie wir ihn aus den gründerzeitlichen Vierteln der europäischen Städte kennen, der seine Logik auch aus dieser Zeit bezieht, weist eine Hermetik auf, die in der heutigen Stadt nur mehr beschränkt Sinn ergibt, in der die Straße aufgrund alternativer Mobilität wieder zu einem Freiraum mit Aufenthaltsqualität wird, ebenso wie der Innenhof. Auch der soziale Hintergrund der im Zuge der Industrialisierung großteils von Investoren errichteten „Mietskasernen“ mit ihrer geschichteten gesellschaftlichen Hierarchie kann heute kein Modell mehr sein. Und die Eindeutigkeit des Blockrands als Hilfe bei der Orientierung in der Stadt kann man angesichts der Supercomputer in unseren Taschen ebenfalls hinterfragen.

Die Eindeutigkeit des Gründerzeitblocks wird durch eine dichte, kleinteilige Struktur aus vielen unterschiedlich hohen und orientierten Häusern ersetzt. Mit hoher Permeabilität, die aber in ihrer Gesamtheit dennoch ein eindeutiges Innen und Außen erzeugt. Durchgänge von allen Seiten ermöglichen vielfältiges Durchqueren. Es geht nicht um den großen Überblick, sondern um das Erlebnis des Um-die-Ecke-Gehens, um die Überraschung dahinter. Die Abfolge von zusammenhängenden Plätzen und Wegen erlaubt eine Zonierung des erdgeschossigen Freiraums, der von allen gleichermaßen genutzt wird, von allen Generationen, von den Bewohnern und den von außen Kommenden. Es gibt keine Zäune und Abgrenzungen. Spiel, Sport oder einfach Aufenthaltsbereich überlagern einander. Diese teils unsichtbare Überlagerung der Bereiche stellt potenziell Konfliktstoff dar. Wenn es Konflikte gibt, wird verhandelt, vielleicht eine der wichtigsten Eigenschaften der StädterInnen des 21. Jahrhunderts. Markierungen geben Leitlinien vor, trennen die privaten Flächen von den öffentlichen. Gemischte Nutzung, vorwiegend im Erdgeschoss, und eingestreute nutzungsneutrale Räume unterstützen den Gedanken der Stadt der kurzen Wege, die einer gewachsenen Qualität von Beginn an nahekommt. Die (Maisonette-)Wohnungen im Erdgeschoss tragen mit ihren vielen Eingängen zum Leben bei, und damit zur sozialen Sicherheit. Der Zwischenraum zwischen den Gebäuden ist positiv besetzt. Städtebau und Innenleben korrelieren. Jede Wohnung hat in mehrere Richtungen orientierte Fenster, mit weiten und nahen Blicken. Durch die schlanken, turmartigen Häuser wird der Freiraum abwechslungsreich beschattet und besonnt. Aneigenbarkeit ist Programm und Schlüssel zur Identifikation, was zuerst auf den Balkonen Blüten treibt.

Urban Queue

Wir bauen in großer Zahl Wohnungen, die am Bedarf vorbeigehen (s. o.). Eine mögliche Antwort auf die Wohnungsfrage bietet die elastische Wohnung. Durch dreiseitig um einen zentralen Wohnraum angelagerte kleine, kammerartige Räume bietet sie vergleichsweise viele Zimmer, die den zeitlichen Wandel innerhalb einer Bewohnerschaft besser bewältigen als ein klassischer Grundriss. Die vertikale Stapelung der Wohnungen und die horizontale Verkettung über Treppen erlaubt einen beweglichen, „weichen“ Städtebau, der in sehr unterschiedliche Situationen und Bedingungen einfließen kann. Im bebauten Gebiet werden die Gebäude, im Wald wird der Baumbestand umtanzt und der Wald wird zur Stadt. Dieser Städtebau ist immer fertig und nie. Durch die hohe Durchlässigkeit auf Erdgeschossebene bleibt diese der Bevölkerung zur Durchquerung erhalten. Im Erdgeschoss überschneiden sich die Agenden von Bewohnern und Passanten. Der Typus eignet sich auch als Schnellbauvariante für neu hinzukommende Bevölkerung. Der teilweise Verzicht auf Unterkellerung und eine Spezialfundierung entsprechen der oberirdischen Sensibilität im Untergrund.

Es ist kompliziert und es ist komplex. Eine Hauptqualität der Stadt ist die „organisierte Komplexität“, geregelte und kultivierte Verschiedenheit, ein wertvolles Gut. In die Stadt kommen und kamen immer unterschiedlichste Protagonisten, um auf begrenztem Raum zusammen zu leben. Die Stadt ist seit jeher am ehesten der liberale Raum, der Boden, auf dem Neues entstehen darf. Das möchten wir in Zukunft auch, und das heißt, dass wir die damit einhergehende Vielfalt der Anforderungen schlicht bewältigen müssen. Wir haben im Grunde die Werkzeuge. Wir haben Erfahrung aus über hundert Jahren Großstadt, um daraus zu lernen. Wir können so viele Informationen verarbeiten wie nie zuvor. Wir müssen uns nur von alten Bildern lösen. Wir müssen nur unsere Zukunftsmüdigkeit überwinden und uns auf eine breite Diskussion einlassen, die die zivile Intelligenz produktiv einschließt. Die Städte werden aussehen, wie wir es uns heute nicht vorstellen können. Die Postkarten, so es sie noch gibt, werden neu gedruckt werden. Die Städte werden die Zeit verkörpern, wie sie es immer getan haben.


Anna Popelka

studierte von 1980 bis 1987 Architektur an der TU Graz (Österreich). 1995 gründetet sie gemeinsam mit Georg Poduschka das Büro PPAG Popelka Poduschka Architekten. Gastprofessuren seit 1997 in Wien und Graz. Darüber hinaus ist sie Mitglied des Innsbrucker Gestaltungsbeirates. PPAG architects wurde mit zahlreichen Auszeichnungen ausgezeichnet, wie z. B. mit dem Preis der Stadt Wien für Architektur oder dem Adolf Loos Staatspreis für Design.

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