RALF MEYER UND MARKUS BRADTKE: AN EINEM STRANG ZIEHEN

Bochum steht wie viele Kommunen vor vielfältigen Herausforderungen. Die Gesellschaft befindet sich im Wandel, die Haushalte sind schwach. Wie geht Bochum mit diesen Zukunftsaufgaben um, ohne den Kopf in den Sand zu stecken?

Meyer: Wir gehen mit gutem Beispiel voran und zeigen, wie solch eine komplexe Situation intelligent bewältigt werden kann. Dazu gehört beispielsweise, die Gesamtsituation genau unter die Lupe zu nehmen und zu analysieren, an welchem Punkt wir stehen und welche Ziele wir verfolgen. Bochum verfügt nicht nur über attraktive Flächen, sondern – auch aufgrund der Hochschule – über eine qualifizierte Bürgerschaft. Die treibende Frage ist: Welche Rahmenbedingungen sind nötig, um Arbeitsplätze in der Stadt zu schaffen und eine zukunftsweisende wirtschaftliche Entwicklung anzustoßen? Aus unserer Sicht gehören dazu vor allem eine pulsierende Innenstadt sowie eine gute Infrastruktur. In puncto Infrastruktur haben wir mit der Initiative Gigabit-City Bochum bereits ein Highlight gesetzt. Bochum wird die erste Stadt mit flächendeckenden Gigabit-Anschlüssen sein. Schon heute sind 90 Prozent der Haushalte in der Lage, Internet mit Gigabit-Geschwindigkeit zu nutzen. Außerdem wird unsere Innenstadt einem beispiellosen Umbauprozess unterzogen. Darüber hinaus haben wir uns einen sehr guten Ruf als attraktiver Standort für Neuansiedlungen erarbeitet. So ist es uns gelungen, die Max-Planck-Gesellschaft davon zu überzeugen, in Bochum ein Institut für Cyber-Sicherheit zu errichten. Auch die Bosch-Tochter Escrypt will sich auf MARK 51°7, den Flächen des ehemaligen Opel-Werks, ansiedeln. All diese Entwicklungen sind Bausteine eines Gesamtkonzeptes, das auf einer klar definierten Strategie und nicht auf blindem Aktionismus basiert.

Als attraktiv gilt eine Stadt erst dann, wenn sie auch ein entsprechendes Angebot an Wohnraum vorweisen kann. Wie sieht die Situation aktuell in Bochum aus – einer Stadt, in der qualitativ hochwertiger Wohnraum eher selten anzutreffen ist?

Bradtke: Seit 2014 verzeichnet Bochum eine stabile, leicht wachsende Bevölkerungsentwicklung, auf die wir mit passenden Wohnungsangeboten reagieren wollen. Unser Ziel ist es, durch Sanierungen im Bestand und durch attraktiven Neubau jährlich 800 neue Wohneinheiten zu realisieren. Wir begegnen damit auch der derzeitigen Situation, dass wir zwar etwa 60.000 Studierende haben, aber nur die Hälfte von ihnen auch in der Stadt wohnt. Wir möchten, dass Menschen, die sich in Bochum ausbilden lassen, auch in der Stadt Arbeit finden, vielleicht Familien gründen und auch entsprechende Wohnangebote vorfinden. Insofern ist die von uns entwickelte „Bochum-Strategie“ weit mehr als eine rein wirtschaftlich orientierte Strategie: Sie umfasst Aspekte wie Arbeiten, Wohnen, Bildung, Infrastruktur, aber auch Erholung und Freizeit. Durch die Berücksichtigung dieser Punkte sind wir davon überzeugt, die Stadt Bochum positiv zu entwickeln.

Diese positive Entwicklung ist sicherlich auch der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen den Ressorts Stadtentwicklung und Wirtschaft geschuldet. Wie beeinflusst Ihre enge Zusammenarbeit die Entwicklung der Stadt positiv?

Bradtke: Aus meiner Sicht als Baudezernent spielt die Entwicklung der Wirtschaft eine besondere Rolle. Unsere Wirtschaftskraft ist das Wissen: Bochum ist Stadt der Wissensarbeit, d. h. Geld wird entweder direkt aus dem hier verfügbaren Wissen oder durch Produkte und Dienstleistungen, die aus der Expertise entwickelt wurden, generiert. Ich sehe meine Aufgabe darin, als „Ermöglicher“ aufzutreten und Unternehmen sowie Bildungseinrichtungen die Chance zu geben, sich auch räumlich zu entwickeln. Dazu braucht es profilierte und attraktive Standorte. Glücklicherweise haben Ralf Meyer und ich die gleichen Visionen und auch den gleichen Blick auf unsere Stadt: Wir wollen Dinge möglich machen und sind davon überzeugt, dass sich Wohlstand, wirtschaftliche Entwicklung, Wohn- und Lebensqualität nicht ausschließen. Im Gegenteil: Dank unserer gemeinsamen Vorstellungen ist es uns so beispielsweise gelungen, die Ansiedlung der Hauptverwaltung des Wohnungsriesen Vonovia SE in Bochum mit über 1000 Arbeitsplätzen zu realisieren.

Wie wichtig ist es in diesem Kontext, Entscheidungen auf kurzem Wege treffen zu können?

Bradtke: Sehr wichtig. Wöchentliche Treffen gehören genauso zu unserem Alltag wie täglich digital verbunden zu sein.

Meyer: Dass wir die gleiche Sprache sprechen, wird auch von der Außenwelt wahrgenommen. Mein Fokus liegt auch auf der Entwicklung einer lebenswerten Innenstadt. Herr Bradtke interessiert sich dafür, wie die Wirtschaft in unserer Stadt funktioniert. Wir haben gemeinsam analysiert, welche Ressourcen eingesetzt werden müssen, um das beste Ergebnis zu erzielen. Diese auf engem Austausch basierende Zusammenarbeit vermitteln wir auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Im Rahmen der Vision Innenstadt 2030 haben Sie drei Zukunftsszenarien entwickelt. Welche Potenziale ergeben sich hieraus speziell für die Innenstadt? 

Meyer: In Zukunft wird sich das Bild der Innenstadt grundlegend verändern. Fußgängerzonen mit dominantem Einzelhandelsbesatz sind nicht mehr erfolgreich. Dennoch ist es ein Trugschluss, an Patentrezepte für erfolgreiche Innenstädte zu glauben. Unsere Vision Innenstadt 2030, die wir mit dem Hamburger Büro urbanista entwickelt haben, überspringt bewusst den kurz- und mittelfristigen Blick auf die Problemlagen der Innenstadt und beschäftigt sich direkt mit den Aspekten, die eine erfolgreiche Innenstadt im Jahr 2030 garantieren. Verschiedene Szenarien für die Bereiche Arbeiten, Digitalisierung und Wohnen zeigen auf, wohin die Reise gehen könnte bzw. sollte. Die Flexibilität dieser Szenarien ist elementar, denn natürlich können wir heute noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, was wir 2030 benötigen. Diese offene Haltung ist wichtiger Bestandteil der informellen Vision Innenstadt 2030, die wir nun formell mit dem ISEK beginnen umzusetzen.

Und auf welchen Strukturen beruht eine funktionierende Innenstadt?

Bradtke: Ganz einfach: Funktionierende Innenstädte basieren auf einem vitalen Nutzungsmix ohne reine Einzelhandelsdominanz. Schauen Sie sich südeuropäische Städte an: Sie glänzen aufgrund ihres kulturellen Angebotes und der besonderen Aufenthaltsqualität durch attraktive Plätze und vielfältige Gastronomie. Für uns heißt das: weg von noch mehr in sich geschlossenen Shopping-Centern und monofunktionalen Strukturen! Unsere Vision behandelt insgesamt drei Schwerpunkte, die unsere Innenstädte künftig maßgeblich beeinflussen werden.

Erstens: wie wir die Digitalisierung in Bochum umsetzen wollen. Geht es nur darum, freies W-Lan für alle oder Assistenzsysteme bereitzustellen, die die Erreichbarkeit verbessern? Oder birgt die Digitalisierung vielleicht auch das Potenzial, Produktionsformen, die auf leistungsfähige Datennetze angewiesen sind, wieder zurück in die Stadt zu bringen?

Zweitens: wie wir das Thema „Wohnen in der Innenstadt“ realisieren wollen. Dass Bochum Studi-Stadt ist, zeigt sich auch an der Innenstadt – und das nicht nur abends im Bermuda3Eck, sondern auch tagsüber. Allerdings wohnen nur sehr wenige von ihnen in der Stadt. Sofern wir dieser Zielgruppe ebenfalls passenden Wohnraum anbieten können, steigt die Chance, dass sich junge Leute nach ihrem Studium auch um einen Arbeitsplatz in Bochum bewerben und so der Stadt langfristig erhalten bleiben.

Drittens: wie wir das Thema Produktion in die Innenstadt tragen. Auf Basis der Charta von Athen hat die Stadtplanung seit den 30er-Jahren eine klare Nutzungstrennung in den Städten verfolgt. Infolgedessen gab es wenig Mischung und viel Verkehr in den Innenstädten. Die Charta von Leipzig verfolgt heute genau das Gegenteil, nämlich deutliche Nutzungsmischungen innerhalb der Städte. Dank moderner Technologien findet ein Großteil der Produktion heute digital statt und ist somit wohnverträglich. Viele Menschen arbeiten selbstständig und sind nicht mehr an ein festes Büro gebunden, sondern auf der Suche nach geeigneten temporären Arbeitswelten in der Innenstadt. Auf diese Entwicklung reagieren wir auch hier in Bochum: In der Innenstadt realisiert die „Montag Stiftung“ derzeit mit der KoFabrik einen Coworking Space, der eine wichtige Impulswirkung auf das gesamte Quartier, das Kortland-Viertel, haben wird. Die KoFabrik ist ein erster Baustein, der zeigt, wo unsere Vision Realität wird.

Wir sprechen viel von jungen Leuten, von modernen Prozessen etc. Inwiefern werden auch ältere Generationen in der Vision berücksichtigt?

Meyer: Im Rentenalter zieht es viele Menschen, die in Einfamilienhäusern außerhalb der Innenstadt gewohnt haben, zurück in die Stadt, weil sie hier ein breites Angebot direkt vor der Haustür vorfinden. Dass eine Stadt innerstädtische Wohnbereiche vorweisen kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Das ist in Bochum durchaus besonders. Allerdings ist es wichtig, diese Bereiche qualitativ aufzuwerten, um sie auch für ältere Menschen attraktiv zu machen. Momentan können wir die Nachfrage kaum befriedigen. Das ist definitiv eine der großen Zukunftsaufgaben für uns.

Bradtke: Wir dürfen darüber hinaus die Kaufkraft dieser Altersklasse nicht vergessen. Auch aufgrund des exzellenten Kulturangebotes sind diese Menschen willens, in die Bochumer Innenstadt zu ziehen. Auch wenn wir heute noch keine Wohnungen in direkter Innenstadtlage anbieten können, haben wir in fußläufiger Entfernung bereits mehrere große Wohnprojekte, wie z. B. eine Wohngemeinschaft an der Kronenstraße oder das Dichterviertel direkt am Stadtpark, das aus der Feder von Professor Meckler stammt und die bestehende Gründerzeitarchitektur aufgreift. Die dort entstehenden Wohnformen bewegen sich zwar in einem recht hohen Preissegment, aber auch das wird in Bochum nachgefragt. Ich denke, die Stadtgesellschaft wird künftig wieder enger zusammenwachsen. Das gelingt u. a. auch über die räumliche Situation. Genau deswegen wollen wir das Wohnen in der Innenstadt weiter stärken. Sobald mehr Menschen in der Innenstadt wohnen, gewinnen auch neue Nutzungen, wie z. B. unsere geplante Markthalle, an Relevanz. Wer in der Innenstadt wohnt, möchte nicht mehr mit dem Auto in ein Einkaufszentrum außerhalb der Stadt fahren. Die Innenstadt muss eine Stadt der kurzen Wege sein, in der sich die einzelnen Nutzungsbausteine miteinander verbinden: Produzenten und Konsumenten.

Die gastronomische und kulturelle Vielfalt auf einem relativ engen Raum ist in Bochum wirklich bemerkenswert. Eine vitale Innenstadt scheint hier nicht vom Einzelhandel abhängig zu sein. Hat es die Stadt in der Innenentwicklung dadurch leichter als andere Städte?

Bradtke: Wir können uns über unsere Ausgangssituation wirklich nicht beklagen. Dennoch wird dem Handel eine wichtige Funktion zuteil, ohne dass er künftig dominieren soll. Wir wollten nie so sein wie Düsseldorf, Essen oder Dortmund, sondern uns auf unsere eigenen Stärken besinnen: „Kultur“ kann Bochum exzellent, wie das neue Musikforum, das Bermuda3Eck oder das Schauspielhaus zeigen. Das kommt uns natürlich auch in unserer Bochum-Strategie zugute. Weitere solcher Nutzungen in die Innenstadt zu bringen, ist ein wichtiger Schritt, um durch Nutzungsmischung Urbanität zu erzielen. Darüber hinaus wird übrigens auch die Universität von den Toren Bochums in die Innenstadt ziehen, so dass auch hier ein „Haus des Wissens“ entsteht. Auf diese Weise verbinden sich fast automatisch Stadt- und Wissensgesellschaft und bilden eine exzellente Voraussetzung für die Zukunft der Bochumer Innenstadt.


© Sascha Krecklau

Dr. Markus Bradtke

studierte und promovierte im Bereich Raumplanung an der TU Dortmund. Nach verschiedenen beruflichen Stationen in Glasgow, Dortmund und Oberhausen, gründete Radtke 1997 die MPs Stadtplanung GbR in Bochum mit Schwerpunkt auf Bauleitung, Projektmanagement und Forschung. Von 2001 bis 2006 war er Technischer Beigeordneter der Stadt Ahaus sowie Vorstand für Stadtplanung, Bauordnung, Hoch- und Tiefbau, Immobilienwirtschaft, Liegenschaften, Bauhof und Stadtentwässerung. Danach war er bis 2015 Stadtbaurat der Stadt Witten. Seither bekleidet er das Amt des Baudezernenten der Stadt Bochum.

 

 

© Sascha Krecklau

Ralf Meyer

ist seit Herbst 2014 Geschäftsführer der Bochumer Wirtschaftsentwicklung. Zuvor war er als Geschäftsführer der hannoverimpuls GmbH, als Geschäftsführer der HannoverBeteiligungsFonds sowie als Prokurist der N-Bank tätig. Der Betriebswirt ist außerdem Aufsichtsratsvorsitzender der ruhr:HUB GmbH sowie ständiges Mitglied im Verwaltungsvorstand der Stadt Bochum. Ralf Meyer verfügt die Expertise in der Entwicklung von Gewerbebranchen, Innovationsnetzwerken, dem Aufbau und Betrieb von Technologie und Gründerzentren, dem Beteiligungskapital für Startups sowie der Strukturierung von Wirtschaftsförderungen.

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