DR. ALEXANDRA APFELBAUM: VON DER EINKAUFSSTADT ZUR KULTURSTADT

© Daniel Sadrowski

„In Essen lebt man nicht, in Essen geht man Einkaufen, oder man verlängert im Rathaus seinen Personalausweis“, so der Historiker und Journalist Ludger Claßen über seine Heimatstadt. Claßen benennt hier zwei funktionale Aspekte der Stadt: Das Einkaufen und die Verwaltung. Doch was macht eine Stadt lebenswert? „Essen – Die Einkaufsstadt“, so leuchtet es in großen Buchstaben auf dem Hotel Handelshof gegenüber dem Hauptbahnhof. Eine Bezeichnung, die bereits im Jahre 1938 von der damaligen Werbegemeinschaft geprägt worden ist, doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg als stadtplanerisches Thema dominant wurde. Der Schriftzug von 1951 mutet in heutigen Zeiten fast ironisch an, angesichts von Pandemie, Onlinehandel und dem großen Event-Shoppingwahn-Dilemma vieler deutscher Städte. Voller Stolz hatte Essen eine der ersten und größten deutschen Fußgängerzonen aufzuweisen, die aus der Kettwiger, Viehofer und Limbecker Straße gebildet wird. Fußgängerzonen sind im Hinblick auf autofreie Städte heute wieder erstrebenswerte Stadtbausteine, doch die Idee der reinen Einkaufsstraße hat scheinbar ausgedient. War ihre Frequentierung in der Nachkriegszeit noch die Messlatte für den wirtschaftlichen Erfolg und die Attraktivität einer Stadt, lässt sich heute vielerorts längst keine Auszeichnung mehr finden. Immer gleiche Ketten und Filialen in austauschbaren Erdgeschosszonen mit überdimensionierten Werbeflächen lassen die Städte im Einheitsbrei versinken. Diese „mono-kommerzielle Ödnis“ bestehend aus wenigen großen Handelsketten generiert keine städtische Individualität.

Die Stadt Essen muss – wie viele Städte – ihre eigene Auszeichnung finden. Ist die Kultur der Heilsbringer? Kultur war im Ruhrgebiet nie eine Selbstverständlichkeit, sondern musste hart erarbeitet werden. Für ihre Vermittlung und Akzeptanz gilt das heute noch. Dabei ist und bleibt die Kultur als Zeichen des Wandels und Motor des Fortschritts das Sinnbild für Transformationsprozesse. Die erste wesentliche Veränderung erfolgte für die Stadt Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem aufkommenden Mäzenatentum und weitreichenden kommunalen Bestrebungen um die Kultur der Stadt. Dies führte zur Gründung von Museen und Theatern und anderen Kultureinrichtungen. Der wichtigste Impuls war sicherlich die Gründung des Folkwang Museums durch Karl Ernst Osthaus, noch heute die einzige Kunsthochschule der Region als Folkwang Universität der Künste. In der Stadt entwickelte sich – nicht zuletzt initiiert durch Margarethe Krupp – ein dichtes Netzwerk aus Architekten, Künstlern, Industriellen und Verwaltungsfachleuten, was schließlich eine modellhafte Stadtentwicklung möglich machte.

Mit dem Zweiten Weltkrieg erfolgte dann eine große Zäsur, die langfristige und sichtbare Spuren hinterließ. Essen zählte mit etwa 90 Prozent zerstörter Bausubstanz zu den am stärksten getroffenen Städten des Ruhrgebiets. Der Wiederaufbau und die folgenden Nachkriegsjahrzehnte setzten nicht nur bauliche, sondern auch erneut wichtige kulturelle Impulse für die Stadt, nicht zuletzt durch den begonnenen Strukturwandel. Man findet heute in der Stadt qualitätsvolle Nachkriegsarchitekturen wie das Aalto Theater, den Grugapark mit seiner Halle oder den Neubau des Folkwang Museums. Was aber Essen in diesem Zusammenhang besonders auszeichnet, ist die Hochhaus-Dichte der Stadt – ein Alleinstellungsmerkmal unter den Revierstädten. Südwestlich und nordöstlich des Hauptbahnhofs erstreckt sich eine Reihe von Hochhäusern, die seit den 1950er-Jahren entstanden sind und Essen als Verwaltungsstadt ausweisen sollten. Noch Jahre später wurde die Hochhauskulisse um weitere eindrucksvolle Bauten am Gildehofplatz ergänzt wie den RWE-Tower oder die Evonik-Gebäude. Doch hat die Stadt versäumt diese architektonische Sonderstellung auszubauen. Das AEG-Haus wurde bereits abgerissen und durch „The Grid“ ersetzt, wodurch die strenge Architekturlinie unterbrochen und leider nicht weiterentwickelt wurde. Auch der Abriss der RWE-Gebäude soll noch in diesem Jahr erfolgen. Bleibt zu hoffen, dass die architektonische und städtebauliche Attraktivität des Standortes bewahrt wird, denn Großunternehmen bringen die notwendige finanzielle Kraft, die Kultur benötigt.

Wirtschaft, Architektur und Kultur müssen zusammengedacht werden und die Stadt Essen hat beste Voraussetzungen dafür. Aber ohne Geduld und Zeit, um Strukturen wachsen zu lassen und ohne bauliche Identifikationsorte, die erhalten werden müssen, ist dies nicht möglich. Ein bezugloses Implementieren von überdimensionierten Kreativzentren und massentauglichen Eventhallen raubt der Stadt ihre Authentizität und wird in kurzer Zeit erneute und ähnlich gelagerte Probleme aufwerfen. In der Kultur steckt ein hohes Potenzial nicht bloß eine schöne Begleiterscheinung in der Stadtplanung zu sein, sondern tatsächlich soziale und gesellschaftliche Vielschichtigkeit fest in der Stadt zu verankern. Die Stärkung der Kultur in der Stadt kann weiterhin zur Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen beitragen und damit städtische Identität schaffen. Das meint aber nicht nur die Hochkultur in Form von Museen, Konzerthäusern und Philharmonien, sondern Kultur meint vor allem im Ruhrgebiet auch Kneipen, Werkstätten, Büdchen und Clubs – denn diese sind regions- und stadtspezifisch. Eben nicht austauschbar.

Und es gibt sie noch, die attraktive Einkaufsstraße in Essen. Die „Rü“, eine über zwei Kilometer lange Einkaufs- und Flaniermeile in Essen-Rüttenscheid mit kleinen Gastronomiebetrieben und Geschäften zeigt, dass die Attraktivität solcher Straßen noch reaktiviert werden kann, sie müssen nur neu gedacht werden. Zurück zu einer stärkeren Kleinteiligkeit in der Bebauung, individuelleren Nutzungen und mit mehr Grün und einer höheren Aufenthaltsqualität in den öffentlichen Räumen. Möglicherweise kann so auch das Einkaufen, statt bloßer Wirtschaftsfaktor zu sein, in kleineren und ortsbezogenen Strukturen zum kulturellen Ereignis werden und die Stadt wieder lebenswerter und den Neonschriftzug Essens weniger ironisch erscheinen lassen.

 


Dr. Alexandra Apfelbaum

ist seit 2009 als freiberufliche Kunst- und Architekturhistorikerin tätig. Seit 2018 hat sie die Vertretungsprofessur für Geschichte und Theorie von Architektur und Stadt an der FH Dortmund inne. Sie ist zudem Vorstandsvorsitzende der Initiative Ruhrmoderne und des Deutschen Werkbunds NRW. Ihr Schwerpunkt sind Forschungen zu den  Schnittstellen von Architektur und Kunst des 20. Jahrhunderts mit Fokus auf dem Ruhrgebiet und der Nachkriegszeit. Sie kuratierte und veröffentlichte zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zu Architekten und ihrem Werk.

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