
Habiflex © Stadt Dorsten
Ein Prototyp der Neuen Stadt sollte in Wulfen entstehen, einer ländlich gelegenen Gemeinde zwischen Ruhrgebiet und Münsterland. In Erwartung des großen Bergbau-Booms waren die Pläne ambitioniert: 50.000 Menschen sollten hier leben und unterschiedlichste Wohnangebote finden. Der städtebauliche Masterplan, der in einem internationalen Wettbewerb von 1961 ausgewählt wurde, sah ein Stadtzentrum mit umfassendem Angebot vor, einen die ganze Stadt durchlaufenden Grüngürtel sowie unterschiedliche Nachbarschaften mit präzise modulierter Höhenentwicklung und eigenen Stadtteilzentren. Das Mobilitätskonzept erschloss Fußgängern flächendeckend Wege abseits der großen Straßen. In der Neuen Stadt sollte für die Arbeiter der Zeche Wulfen und ihre Familien weder ad-hoc Wohnraum ohne Konzept noch die übliche Siedlungsarchitektur. Hier wurden neue Konzepte erdacht, für eine neue Gesellschaft.

Städtebaulicher Masterplan Neue Stadt Wulfen © Stadt Dorsten
Doch dann blieb der erhoffte Bergbau-Boom aus und mit ihm die erhofften Einwohner. Der Masterplan wurde nur teilweise umgesetzt, was das realisierte Gebiet zu einer Insel ohne Anbindung werden ließ. Heute leben nicht 50.000, sondern rund 8.500 Menschen dort. Die Bau- und Wohnexperimente, entstanden in der euphorischen Zukunftsstimmung der Zeit, misslangen mitunter spektakulär.
Eines dieser Beispiele ist das Habiflex. Hier entstanden 1974 40 Wohnungen um ein Atrium herum, erschlossen durch Laubengänge und mit großen Neurungen in den Grundrissen. Die Wände im Inneren ließen sich ohne Werkzeug bewegen und sogar die Außenhaut veränderte sich je nach Bedarf: Beim sogenannten „Gelsenkirchener Balkon“ konnten geschosshohe Fenster so gefaltet werden, dass entweder ein Balkon oder ein Wintergarten entstand. Die futuristisch-flexiblen Wohnungen waren anfangs gut nachgefragt. Doch das Experiment fruchtete nicht. Bauphysikalische Mängel machten den Bewohnern bald zu schaffen. Seit 2007 gilt das Haus aufgrund der mangelnden Feuersicherheit als unbewohnbar. Seitdem verfällt das Gebäude zusehends. Seit Kurzem scheint es aber wieder ein leises Versprechen auf Erhalt zu geben. Eine Studentin der BTU Cottbus stellt in ihrer im Februar 2022 eingereichten Masterarbeit Sanierung und Abriss gegenüber und kommt zu dem Schluss, dass Ersteres in Kombination mit einer neuen Eigentumsform ökonomisch wie ökologisch mehr überzeugt. Stadtbaurat Holger Lohse weiß um den bislang rein theoretischen Vorschlag und scheint ihm nicht abgetan. Eventuell steht dem Habiflex also doch noch eine erfolgreiche Zukunft bevor.
Diese Möglichkeit besteht für einen weiteren Experimentalbau nicht mehr. In der Metastadt lagen nur 13 Jahre zwischen Richtfest und Abriss. Auch hier stand das fehlende Verständnis für die Eigenschaften der verwendeten Baumaterialien dem Erfolg im Weg. Entwurfsgedanke war ein flexibel erweiterbares System, in das die Wohnungen wie in ein Regal eingeschoben wurden. Knapp über 100 Wohnungen wurden in Wulfen realisiert, flankiert von Ladenlokalen. Deren Mieter wanderten allerdings bald ab, als im Zentrum der Neuen Stadt die Ladenpassage eröffnete. Sie wiederrum ist ihrerseits ein Experimentalbau – Josef Paul Kleihues verband in ihr mit klarer Formensprache Gewerbe und Wohnen – und ebenfalls ein Bild des Scheiterns. Hier war es nicht das Material, das ihr Schicksal besiegelte, sondern die Einbettung in den städtebaulichen Masterplan, der nie umgesetzt wurde. So blieb sie ein singuläres Element ohne die vorgesehene Einbindung und verkam von einem integralen Teil der geplanten Flaniermeile zum ungemütlichen Windkanal. 2018 zogen die letzten Wohnungsmieter aus, die Geschäfte standen schon seit 2017 komplett leer. Mit Mitteln des Landes konnte die Stadt Dorsten das Gebäude 2020 kaufen und strebt nun, unterstützt von der Landesinitiative Zukunft. Innenstadt. Nordrhein-Westfalen, eine Neugestaltung des Grundstücks an. In Bürgerwerkstätten wird ausgelotet, welcher Bedarf an Flächen für Wohnen, Arbeiten und Einzelhandel besteht. 2023 soll das Ergebnis eines darauf aufbauenden Architekturwettbewerbes feststehen.

Schwarze Finnstadt in Wulfen © Ben Kuhlmann
Ist die Neue Stadt Wulfen also gescheitert? An den ungewöhnlichen Wohnmodellen und ihrem innovativen Charakter lag es jedenfalls nicht. Die Bewohner mochten die neuen Angebote, die über den üblichen Standard hinausgingen, durchaus. Und tatsächlich gibt es auch Beispiele für gelungene Experimente: die Gebäude der Finnstadt etwa, die jeder ihrer großen Eigentumswohnungen Zugang zu einer Terrasse ermöglichen und dadurch an grob gepixelte Pyramiden denken lassen. Oder das Gelände der Deutschen Fertighaus-Ausstellung, deren Bungalows nach der viermonatigen Ausstellung 1970 einzeln verkauft wurden, und das heute ein funktionierendes Einfamilienhausgebiet ist. Was an den Experimentalbauten die Übertragung vom Gedankenspiel in die Realität nicht bestand, waren nicht die neuen Ideen, sondern die euphorisch-unbekümmert eingesetzten Materialien, die die Bauten schließlich unbewohnbar machten.
Dass das große Vorhaben der Neuen Stadt insgesamt scheiterte, lag allerdings ganz offensichtlich an den viel zu hochgegriffenen Vorstellungen hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung und der Einwohnerzahl. Der Wunsch nach einer großangelegten neuen Planstadt führte letztlich dazu, dass es keinerlei Strukturen gab, die das Rudiment hätten integrieren können, als die Voraussetzungen sich änderten. Ob heutiger Städtebau genügend daraus gelernt hat, wird sich zeigen. Dem Mut zum Experiment sollte das jedenfalls nicht im Wege stehen. Stadtentwicklung ist ein dynamischer Prozess. Und dieser braucht Visionen und Entfaltungsmöglichkeiten, um auch in Zukunft zu bestehen.
Für mehr Einblicke in die Neue Stadt Wulfen sei der kurze Beitrag von Yasemin Utku, Architektin, Raumplanerin und seit 2018 Professorin für Städtebau und Planungspraxis an der Technischen Hochschule Köln, empfohlen, in dem sie mit Baukunst NRW sowohl die erfolgreichen Projekte besucht als auch das Potential der gescheiterten aufzeigt. Zu finden auf der Webseite www.baukultur.nrw.
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