HARREMAN – WANDGEMÄLDE MIT ZWEI GESICHTERN

© Reskate

Jede:r kennt sie – die großen, schönen Fassadenmalereien, die einem das Wort WOW! von den Lippen stehlen. Nicht die Ungefragten und Geschmierten, nicht das notorische Superman-S, das fremdes Eigentum beschmutzt. Sondern solche, wie die zusammenhängenden Bilder entlang der Eastside-Gallery in Berlin oder all die Wandgemälde des Duos Christina Laube und Mehrdad Yaeri. Für gewöhnlich sind sie hell, bunt und imposant. Die Vorstellung, dass sie sich nicht in Gänze präsentieren, dass sie ihre wahre Form verschleiern und auf den ersten Blick nur die halbe Geschichte erzählen, ist ungewöhnlich. Doch genau das tun die Wandgemälde des spanischen Künstler:innen-Duos Reskate: Weil Reskate, alias María López und Javier de Riba, innerhalb des Projekts Harreman Fassadenmalereien mit Photolumineszenzfarben malt, beginnen die Kunstwerke nachts, bei abwesender Lichtverschmutzung, selbst zu leuchten. Sobald es dunkel ist, zeigen sich zu den bereits bestehenden Bildern entweder konträre Motive oder eindrucksvolle Ergänzungen. Das Duo aus Barcelona widmet sich mit dem Projekt Harreman Doppelheiten, Gegenteilen und Doppeldeutigkeiten dieser Welt.

Der Titel Harreman setzt sich aus den baskischen Verben hartu (bekommen) und eman (geben) zusammen. Obgleich das Wort morphologisch aus zwei Antonymen besteht, ist Harreman die eine Bedeutung inhärent: Beziehung. So zeigen sich dann auch die Wandgemälde, die tagsüber das Eine, des Nachts das Andere sind, sich aber immer aufeinander beziehen. Sie finden sich global verstreut, diese täglichen und nächtlichen Antagonismen, die eine semantische Beziehung zum umgebenden Raum haben: Das Wien Museum schmückt beispielsweise seit 2019 ein Abbild einer Tiroler Bracke, eine für Österreich typische Hunderasse. Seit Jahrhunderten dienen Tiroler Bracken dem Menschen als Jagdhunde, die insbesondere auf Füchse geschärft sind. In reduziertem Weiß auf Schwarz ist der Hund, wie auf Befehl wartend, kaiserlich starr porträtiert. Doch nach Einbruch der Nacht zeigt sich im Innern des Tieres ein anderes Bild: Der Sternenhimmel offenbart den Hund, wie er gegen einen Fuchs kämpft. Baumelnde, entspannte Lefzen sind nunmehr gespannt und aufgerissen und entblößen scharfe Reißzähne. Der tagsüber sichtbare, disziplinierte Gehorsam des Hundes ist nach Sonnenuntergang dem intrinsischen, doch unterdrückten, aber allgegenwärtigen Jagdtrieb gewichen.

© Reskate

Im texanischen San Antonio findet sich ein weiteres Gemälde: Wandgroß ist der Kopf einer Frau, einer sogenannten Chili Queen, abgebildet. Um die Jahrhundertwende stellten die Chili Queens eine große Attraktion dar: Bis in die frühen Morgenstunden bewirteten sie die Menschen mit Chili con Carne und anderen Delikatessen. Sie waren bei den Ansässigen und Tourist:innen so beliebt, dass ihr Ruf sie zu den Vorreiterinnen der heutigen Tex-Mex Lebensmittelindustrie kürte. Vor diesem Hintergrund hat das Bildnis der Frau die Augen tagsüber, wie im Schlaf, geschlossen – denn ihre Zeit war nachts: Chilipflanzen als Haare referieren auf die Speisen, die hellwachen Augen auf die belebten Nächte.

© Reskate

In Shenzhen, dem ehemals antiken, chinesischen Fischerdorf, das innerhalb von nur 40 Jahren die Einwohnerzahl von 30.000 auf 12 Millionen vergrößerte und nun Speerspitze der Handyindustrie ist, findet sich ebenfalls ein Kunstwerk. Tagsüber zeigt sich an einer Wand ein Fischernetz, das mit seinen Knotenpunkten an soziale Netzwerke erinnert. Nach Sonnenuntergang erscheint ein im Netz gefangener, der Kultur typischer Koi. Die Kontraste, die Reskate hier adressiert, finden sich in der archaischen Profession des Fischens entgegen der hypermodernen Handyindustrie; dem Wandel vom Fischernetz zum sozialen Netz(werk).

María López und Javier de Riba betonen, dass ihre Kunstwerke Licht in die dunklen Ecken der Städte bringen sollen, dass sie Menschen dazu einladen, mit der Kunst zu interagieren und dass sie Kultur vermitteln. So wird vor einer Wand, die Reskate gestaltet hat, eine Taschenlampe zur „Spraydose”. Wieder andere Fassadengemälde können von Passant:innen durch einen Lichtschalter an- und ausgemacht werden.

Das neueste Wandbild in Mérida, Spanien, ist ein Kunstwerk, dass explizit angestrahlt werden muss. Eulalia, so der Titel des Fassadengemäldes, ist an den Zyklus der Straßenlaternen angeschlossen und bringt nachts den Kopf eines jungen Mädchens hervor, das bis zum Hals unter Wasser ist. Was nur nachts sichtbar ist, ergänzt das Tageslichtbild: Hände, die bestimmt an einem Topf mit Pflanze festhalten.

© Reskate

Eulalia steht im Griechischen für „sprachgewandt”. Sie ist die heilige Patronin der Stadt Mérida und gilt als Verfechterin der Meinungsfreiheit. Die Anspielungen auf den Klimawandel und den Aktivismus, an die Stimmen der Jugend, sind unbestreitbar.

Stilistisch ist Reskate von der Popkultur und dem Graphic Design geprägt und stets darauf erpicht, sich in jedem Projekt neu zu finden und jede Entscheidung, in Bezug auf Standort, Motiv und Stil, gewissenhaft zu treffen. Der Kreativität, der Gewissenhaftigkeit wird Zeug:in, wer den Fassadenmalereien zu späterer Stunde Hallo sagt – wem dies nicht möglich ist, der kann auf der Website des spanischen Künstler:innen-Duos selbstgemachte Drucke erwerben. Auch diese leuchten nachts und tragen Tagsüber Geheimnisse inne.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert