Morgenstadt im Rückspiegel

Der kanadische Kommunikationsforscher Marshall McLuhan prägte einst das Zitat: „Wir fahren in die Zukunft und benutzen (zur Orientierung) nur unseren Rückspiegel.“ Wenn wir über die Stadt von morgen diskutieren, lässt sich dies gut nachvollziehen, Städte sind maßgeblich durch ihre Historie geprägt. Zudem haben städtische Infrastrukturen sehr lange Innovationszyklen, die sich nur sehr langsam über die Zeit verändern. Geschätzte 95% der baulichen Strukturen einer Großstadt wurden bereits im letzten Jahrhundert realisiert. Manche Strukturen, wie z. B. historische Straßenverläufe in Berlin, Teile der Kanalisation in London oder so mancher Bahnhof, stammen sogar noch aus dem 19. Jahrhundert, aber bestimmen doch die Prozesse einer Stadt von heute.

Um die Stadt von morgen zu planen, werden bisher langfristige Stadtentwicklungskonzepte anhand von Prognosen erarbeitet und über entsprechende Projekte realisiert. Doch zwischen kommunaler Planungspraxis und der Vision der Stadt von morgen liegt noch ein feiner Unterschied: Städte und ihre Systeme entwickeln sich auch technisch weiter, was sich im geschichtlichen Rückspiegel auch entsprechend feststellen lässt. Alle fünf bis sieben Jahrzehnte kamen bedeutende Veränderungen auf, zusammen mit der Erkenntnis, etwas „anders“ machen zu müssen oder zu können. Dies war im Zeitalter der Industrialisierung so (extremer Bevölkerungsanstieg und Massenverkehrsmittel) genau wie durch die Elektrifizierung (Veränderung der Bauweisen und Infrastrukturen) oder die Mobilisierung durch das Automobil (die funktionsgetrennte und autogerechte Stadt).

Durch eine zunehmende Digitalisierung stehen wir nun im 21. Jahrhundert wieder vor einer umwälzenden Herausforderung in unseren Städten. Diese Neuordnung oder auch Transformation ist dabei stets von wirtschaftlichen Interessen geprägt: Die erste U-Bahn in London wurde realisiert, weil die Bevölkerung bereit war, für kürzere Reisezeiten mehr zu bezahlen als für die Pferde- Tram. Das erste Elektrizitätswerk in Paris wurde gebaut, weil die Bürger bereit waren, für elektrisches Licht oder für maschinelle Kraft zu zahlen. Große Teile Berlins wurden im Hobrecht-Plan endlich mit einer Kanalisation versorgt, die sich durch die Erschließung von neuem Bauland refinanzierte. Hinter fast jeder urbanen Innovation in der Stadtgeschichte findet sich ein ökonomisches Interesse, das von privaten oder öffentlichen Akteuren erkannt und genutzt wurde.

Doch wer finanziert die intelligente Stadt von morgen? Folgt man diversen Fachstudien, besteht allein bis 2020 ein weltweites ökonomisches „SmartCity“-Potenzial von fast 1,5 Billionen Euro, andere Zahlen sprechen von weit größeren Volumina bis 2030. Wenn man diese Zahl auf ein einzelnes Land wie Deutschland (Anteil der städtischen Bevölkerung am globalen Urbanisierungsgrad) herunterbricht und dies dann wiederum proportional auf die bestehenden Stadtgrößen (nicht streng wissenschaftlich, aber auch nicht ganz falsch), erhält man folgende Resultate: Eine fiktive Stadt in Deutschland mit einer Million Einwohner hat ein ökonomisches Potenzial von etwa 750 Millionen Euro, eine Stadt mit 100.000 Einwohnern etwa 75 Millionen Euro und eine Kleinstadt mit 10.000 Einwohnern noch 7,5 Millionen Euro. Hier stellt sich schnell die Frage, ob diese Zahlen berechtigt sind. Rechnet man im Energiesektor für eine beispielhafte Stadt mittlerer Größe die jährlichen Stromkosten zusammen, kommt man aber bereits auf Ausgaben (private Haushalte und Industrie) von über 150 Millionen Euro pro Jahr (1/3 Haushalte, 2/3 Industrie). Wenn man allein im Bereich „Smart Energy“ Einsparungen von 5 % als Ziel annimmt, entspräche dies einem Potenzial von fast 8 Millionen Euro jährlich. Davon profitiert aber momentan noch niemand, weder auf Verbraucher- noch auf Erzeugerseite. Auch „Smart Meter“, also die Transparenz im Strom- oder Wasserverbrauch, helfen hier kaum weiter. Ähnlich verhält es sich im Mobilitätssektor: eine zunehmende Nutzung von „On-Demand- Lösungen“ wie MyTaxi, car2go oder Uber unterstützt die Verkehrsbetriebe kaum beim Ausbau ihres ÖPNV-Netzes. Dabei ist der Wandel hin zu nachhaltiger gemeinschaftlicher Mobilität in einer Stadt und die einhergehende „Abgewöhnung“ des Pkw einer der größten Hebel für eine nachhaltige, lebenswerte und smarte Stadt. Von den Visionen urbaner Dachgewächshäuser, die komplette Logistikketten überflüssig machen, smarter Stadtquartiere, die als Energiespeicher für die umliegende Stadt fungieren, oder urbaner Sensorsysteme zur Entwicklung neuer Dienstleistungen und Mehrwerte für den lokalen Einzelhandel wollen wir hier noch gar nicht reden. Große Transformationen müssen in kleinen Schritten gedacht werden.

Die Stadt von morgen besteht deshalb nicht nur aus Visionen, sondern braucht klar definierte Entwicklungspfade, um visionäre Ideen in die Umsetzung zu bringen. Der Schlüssel für die Stadt von morgen wird dabei maßgeblich in der Konzeption und Etablierung neuer kollaborativer Geschäftsmodelle liegen. Stadtsysteme wie Energie, Mobilität, Logistik, Kommunikation, Sicherheit und andere sind heute von vielen Akteuren definiert, die teilweise wettbewerblich gegeneinander arbeiten. Die bisherige Diskussion um öffentlich-private Partnerschaften für Finanzierung und Betrieb von Gebäuden oder Infrastrukturen ist bisher in der Vergangenheit nicht ganz glücklich verlaufen, aber es bedarf dringend neuer Modelle und Finanzierungsformen für urbane Innovation. Es gibt bereits zahlreiche Beispiele, in der die Bürger sich in Genossenschaften organisieren und in städtische Blockheizkraftwerke, Straßenbeleuchtungen oder Stromnetze investieren oder diese sogar selbst betreiben. Was der „Smart City“-Diskussion bisher fehlt, ist das Begreifen von intelligenten Stadtkonzepten als Investitionschancen in Zeiten, in denen das Geld auf der Bank immer weniger Zinsen bringt. Visionäre Konzepte mit tragfähigen Finanzierungskonzepten zu flankieren und diese gemeinsam mit Bürgern, Stadtverwaltung und Unternehmen zu realisieren, wird eine der spannendsten Herausforderungen für die angewandte Forschung sein.

Dies ist die zentrale Mission der Innovationsoffensive Morgenstadt, die mit zahlreichen Partnern aus Forschung, Kommunen und Wirtschaft bereits seit 2011 an der Realisierung der Stadt von morgen forscht. Die Zeit wird zeigen, ob es gelingt, durch diesen Innovationsvorsprung die Transformation der Städte nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland zu gestalten. Hierzu müssen aber Städte, Wirtschaft, Politik, Forschung und Gesellschaft an einem Strang ziehen.

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