Gute Nachbarschaft geht heute per App
Das Angebot an digitalen Nachbarschaftsplattformen wächst seit einigen Jahren stetig. Ziel ist es, den Austausch und die Interaktion zwischen den Bewohnern eines Quartiers zu stärken und damit nachbarschaftliche Anonymität zu vermindern.
Seit etwa vier bis fünf Jahren „ploppen“ sie auf: Apps, die helfen sollen, uns mit unseren Nachbarn zu vernetzen. Von Deutschlands größtem digitalen Nachbarschaftsnetzwerk „nebenan.de“, über die App „Sichere Nachbarschaft“, bis hin zu der in den USA längst etablierten App „Nextdoor“, die seit 2017 auch in Deutschland Anwendung findet. Doch woher plötzlich der Hype? Welches Ziel verfolgen diese Apps und wie genau können sie uns helfen?
Die Gründer und Entwickler treffen mit ihren Apps den Zahn der Zeit: Aufgrund der scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten des Internets haben wir verlernt, ein spontanes und formloses Miteinander im öffentlichen Raum zu pflegen oder gar zu leben. Kommunikation findet heute verstärkt in virtuellen Welten, sozialen Netzwerken und Messaging-Diensten statt. Dass die Chance auf soziale Interaktion in der analogen Welt oft nur eine Wohnung weiter liegt, haben wir längst vergessen. Fakt ist, dass 50 Prozent der deutschen Mieter keinen einzigen ihrer Nachbarn beim Namen, geschweige denn persönlich, kennen. Das hat eine Studie der TU Darmstadt ermittelt. Wir leben nebeneinander und dennoch aneinander vorbei – ein Phänomen, das vor allem in den dicht besiedelten Großstädten vorherrscht.
Und nun soll ausgerechnet wieder das Internet Hilfestellung leisten, dass sich Nachbarn in der realen Welt wieder miteinander befassen? Fakt ist: Die digitalen Nachbarschaftsplattformen schaffen etwas, das soziale Netzwerke, wie zum Beispiel Facebook nicht geschafft haben: Sie verknüpfen die virtuelle mit der räumlichen Dimension. Dies gelingt, weil diese Netzwerke ausschließlich lokal funktionieren: Auf den jeweiligen Plattformen registrieren darf sich nur, wer auch wirklich in der Nachbarschaft wohnt. Die Apps „nebenan.de“ und „Nextdoor“ benachrichtigen Bewohner einer Nachbarschaft postalisch und laden dazu ein, sich mit einem Code auf unkompliziertem Wege in ihrer virtuellen Nachbarschaft anzumelden. Die Hemmschwelle, so als frisch Zugezogener mit seinen neuen Nachbarn in Kontakt zu treten, ist weitaus niedriger, als bei jedem zu klingeln und sich vorzustellen. Darüber hinaus beleben die Apps bestehende Nachbarschaften, indem sie Nachbarschaftshilfe initiieren und organisieren: Anstelle des Zettels am „schwarzen Brett“ kann jeder User per Posting nach einer Nachhilfe, einer Putzkraft, einem Hundesitter oder dem besten Rezept für den Bienenstich in der Nachbarschaft suchen.
Inwieweit digitale Nachbarschaftsplattformen auch im Bereich Stadtentwicklung zunehmend relevanter werden und ob sich die Nutzung dieser Plattformen tatsächlich auf das Zusammenleben in Quartieren auswirkt, hat der Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. mithilfe der unabhängigen Denkfabrik adelphi und der Beteiligungsagentur Zebralog 16 Monate lang untersucht. Eine zentrale Erkenntnis des Forschungsprojektes ist, dass es den digitalen Plattformen tatsächlich gelingt, das Gefühl von Anonymität innerhalb einer Nachbarschaft zu reduzieren und gleichzeitig das Zugehörigkeitsgefühl sowie das Vertrauen zueinander zu stärken. Mithilfe von Nachbarschafts-Apps tun sich Bewohner eines Quartiers deutlich schneller zusammen als es in der nicht-virtuellen Welt der Fall wäre. Sie gründen Jogging-Gruppen, Stammtische oder Kartenspielrunden, ohne große Hemmschwellen übertreten zu müssen. Digitale Nachbarschaftsplattformen können auf diese Weise auch einen Mangel an Begegnungs- und Treffmöglichkeiten vor Ort kompensieren. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes zeigen aber auch, dass die Verwendung von Nachbarschafts-Apps insbesondere ein großstädtisches, vor allem aber ein Phänomen innerhalb einer bestimmten demographischen und soziokulturellen Schicht ist. Junge Erwachsene mit Hochschulabschluss sind innerhalb der Nutzerstruktur überrepräsentiert. Dies wird damit begründet, dass Personen mit höherem sozialen Status und einer positiven Einstellung zum Wandel gesellschaftliche Trends eher aufgreifen.
So hilfreich diese digitalen Instrumente für unser analoges Leben auch sein mögen: Vielleicht sollten wir uns nicht nur an ihnen orientieren, sondern auch an älteren Bewohnern unserer Quartiere, die noch nicht verlernt haben, wie soziale Interaktion funktioniert: offline in der analogen Welt, dem öffentliche Raum. Denn sie zeigen uns, dass wir weder Angst haben müssen, um Hilfe oder um ein fehlendes Ei für den Bienenstich zu bitten noch vor dem formlosen Miteinander beim Wäscheaufhängen. Auch die Oma von nebenan würde sich sehr freuen.
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Foto © iStock.com/ViewApart
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