DIANA KINNERT: DIE VERPLANTE STADT ALS ANGRIFF AUF DIE OFFENE GESELLSCHAFT

© Benjamin Zibner

Die Stadt ist mehr als nur Lebensraum. Sie ist der erste und unmittelbarste Austragungsort des kulturellen, sozialen und politischen Versuchs der offenen Gesellschaft. Diesem Druck ist die Stadt nicht nur in der heutigen Zeit einer zunehmend individualisierten und fragmentierten postmodernen, offenen Gesellschaft unterworfen, – sie galt schon immer als Freiheitsversprechen für das im Provinziellen verachtete Abnormale und genau deshalb auch als Entstehungsort der bürgerlichen Gesellschaft.

In der Stadt, in der Menschen mit ihren verschiedenen sozioökonomischen, sozialen und kulturellen Hintergründen aufeinandertreffen, sich austauschen und dabei gegenseitige Veränderung erwirken, darf die kulturelle Wiege des Demokratischen ausgemacht werden. Die Stadt ist Austragungsort: für die fortwährende Begegnung von einander Fremdem, der Duldung bestehender wie aufkommender Widersprüche, aber auch dem Entstehen von Kompromissen und damit einem Boden von Gemeinsamkeit, Gemeinsinn eben. So ist Demokratie nicht ohne Stadt zu denken. Und Stadt nicht ohne Demokratie.

Waren Städte im geschichtlichen Rückblick oftmals nach geschlossenen Logiken erdacht und auf Konzepten von Sicherheit, Sicherung und Verbarrikadierung gebaut, folgt die Stadt der Gegenwart dem Streben nach Offenheit. Einfach ist das nicht: Die klassische Stadtdefinition kommt nicht ohne die konzeptionellen Stadtgrenzen wie die historischen Stadtmauern aus. Das Bild von Grenzen, die vom Außen trennen, um das Innere zu schützen, ist auf das mesopotamische Uruk genauso anwendbar wie für die mittelalterliche europäische Stadt. Gen Moderne sind die wenn vorhandenen Festungsanlagen geschliffen, um Platz für Infrastrukturen zu schaffen und den Raum für Wachstum zu öffnen. Aller Bemühungen zum Trotz sind die räumlichen Strukturen heutiger moderner Städte noch immer auf ihre oftmals militärischen Ursprünge zurückzuführen. Das Grid, das abstrakte Raster, das die Struktur vieler Städte bis heute bestimmt, entstammt nicht nur dem kartesischen Koordinatensystem und dem befreienden Geist der Aufklärung, sondern hat seinen Ursprung auch im römischen Militärlager.

Die Stadt der Moderne, die ihren wachsenden und sich stetig verändernden Anforderungen gerecht werden will, kann also trotz ihrer Ambition hin zu mehr Offenheit keine vollständige Offenheit gewährleisten. Sie unterliegt bestimmten Kapazitäten an Veränderung und Öffnung, da sie nicht in Wolken gemalt, sondern bereits Stein auf Stein gebaut liegt. Die Verantwortung nicht nur für die Sichtbarkeit und Verständnis von Geschichte, sondern vor allen Dingen für die individuell hervorgebrachte Stadtgesellschaft, die sich in ihrer Architektur spiegelt, darf als erste Bedingung für die Stadtplanung von heute gelten. Sie ist maßgeregelt durch die Stadtgesellschaft, die schon ist.

Die offene Stadt, nach den Vorstellungen des Soziologen Richard Sennett wie des Stadtplaners Kees Christiaanse, ist ambivalent. Mit ihr werden offene Infrastrukturen, unbeobachtete Freiräume und radikale Möglichkeitsfelder assoziiert. Sie sollen einer heterogenen Stadtgesellschaft Nischen bieten, in denen alternative Formen des Zusammenlebens entwickelt und erprobt werden und Verhaltensoffenheit und Entscheidungsfreiheit gewährleistet sind. Nicht zuletzt soll die Struktur der offenen Gesellschaft eine diskursive Öffentlichkeit bereitstellen, um Übereinkünfte sich widerstrebender Konfliktparteien zu ermöglichen. Wer mit befreiter Haltung auf die offene Stadt sieht, erkennt in ihr ein kulturelles Wunder, eine soziale Utopie und ein demokratisches Laboratorium.

Doch diese Haltung ist nicht zu befehligen. Der Trend wendet sich vom Liberalismus der ungeplanten, planlosen als wirklich offenen Stadt hin zur Diagnose einer geöffneten als schutzlos ausgelieferten Stadt. Zweifellos: Die offene Stadt ist verwundbar. Sie ist immerzu auch Brutstätte all ihrer Feinde. Die Attentäter der Anschläge von New York, London, Madrid, Paris, Brüssel und auch Berlin stammen aus den Städten offener Gesellschaften. Es ist nicht verwunderlich, dass Visionen der gesicherten Stadt erneut Hochkonjunktur haben. Überwachung, Kontrolle und Einschränkung des öffentlichen Raumes werden durch „potentielle Gefährdungen“ legitimiert. Offenheit wird zurückgebaut, statt ihrer werden geschlossene Subsysteme errichtet. Aus der offenen und demokratischen Stadt entsteht die gesicherte und segregierte Stadt. An die Stelle lebendiger Heterogenität tritt eigentlich faschistische Abtrennung. Der öffentliche Raum wird durch Wachposten und Absperrungen militarisiert, disziplinierende und ausschließende Kontrollsysteme schüchtern den freien Stadtbewohner ein. So klar der Entwurf der gesicherten Stadt ausfällt, so unscharf bleiben die Assoziationen der offenen Stadt.

Doch Unschärfe ist Wesensbestandteil der offenen Stadt. Durch ihre Lebendigkeit und Beweglichkeit, durch ihre permanente Neuentstehung und durch die Widerspenstigkeit all der sich in ihr aufhaltenden Subjekte in ihren tausendgesplitterten Simultanrollen, bleibt die offene Stadt interpretationsoffen. Christiaanse beschreibt im Katalog zu der von ihm kuratierten Architekturbiennale Rotterdam, dass die offene Stadt kein fixer Zustand, sondern Prozess sein muss: Sie darf nicht top-down geplant, sondern muss bottom-up entstehen dürfen. Über die Aufgabe der Anregung darf der aktive Anspruch der zeitgemäßen Stadtplanung im Dienste einer pluralistischen offenen Gesellschaft also nicht hinausgehen.

Sennett beschreibt die Grenzen der offenen Stadt als mehrdeutig. Sie sollen durchlässig statt abschottend sein, weniger Mauerbau denn Membran sein, nicht trennen, sondern Begegnung von sich Fremdem möglich machen. Nicht nur die Grenze, die ganze Formation der offenen Stadt ist daher unvollendet. Die offene Stadt ist Abbild der offenen Gesellschaft: Nicht linear, nicht geplant, niemals ideal. Sie muss Abweichungen und Wendungen standhalten, Widersprüche durch Ebenen der Duldung organisieren und Aushandlungsräume für neue, alte und wiederkehrende Konflikte offenhalten. Die offene Stadt ist eine permanente Anstrengung. Sie ist auf Netzwerke, Informationssysteme und Mobilität als Begegnungsräume angewiesen, sie muss identitätsstiftende öffentliche Räume genauso bereitstellen wie teilöffentliche Rückzugsorte.

Die offene Stadt ist nicht nur anarchisch, sie ist auch als Ganzes ineffizient. Sie lebt von einer kollektiven Verausgabung, die nach ökonomischen Gesichtspunkten verschwenderisch daherkommt. Steht sie damit nicht im absoluten Gegensatz zu einer umfassend geplanten, intelligent gesteuerten, digital kontrollierten und ökologisch effizienten Stadt der Zukunft, von der innovationsbegeisterte Technokraten in allen Metropolen dieser Welt träumen?

Der kulturelle, soziale und politische Versuch der offenen Gesellschaft und damit die Verteidigung der liberalen und pluralistischen Denkweise werden am Gelingen zeitgemäßer offener Städte gemessen. Autoritäre werden die Verwerfungen und Fehlungen der Städte zu ersinnen suchen. Mehr als Innovationsbegeisterung, Technologiefreude, Nachhaltigkeitsinitiativen und Designträume engagierter Eliten sind die offene Gesellschaft und mit ihr die offene Stadt auf den Mut zur Unplanbarkeit angewiesen, auf die Demut der steuerbarer Stadtplanung und auf das Engagement einer aktivierten Stadtgesellschaft.


Diana Kinnert

studierte Politikwissenschaft und Philosophie sowie Sozialwissenschaften an den Universitäten Göttingen, Amsterdam (NL), Köln und Berlin. Sie ist Politikerin der CDU und selbstständige Unternehmerin, Beraterin und Publizistin. Weiter arbeitet sie für verschiedene Forschungsinstitute und Denkfabriken.

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