DOROTHEE DUBRAU: GEMISCHT, KOMPAKT, EUROPÄISCH

Das enorme Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren hat die Ausgangssituation und die Herausforderungen für die Stadt Leipzig in vielen Bereichen grundlegend verändert. In dem Integrierten Stadtentwicklungskonzept Leipzig 2030 (INSEK) werden für die neuen Herausforderungen auch konkrete Ziele formuliert. Es orientiert sich an der “Leipzig Charta für eine nachhaltige europäische Stadt” (2007). Könnten Sie diese vorab kurz erläutern?

Das Leitbild ist die kompakte europäische Stadt. In den vergangenen 100 Jahren hat sich die Stadtentwicklung bzw. die Philosophie der Stadtentwicklung grundlegend verändert. Während der Gründerzeit ist bereits im Sinne des Leitbilds der kompakten Stadt gebaut worden – allerdings unter sehr schwierigen sozialen Bedingungen. Die kompakte Stadt wurde mit Beginn der 1920er Jahre durch das Konzept einer offenen Stadt abgelöst – Stadt und Landschaft standen hier gleichwertig nebeneinander, verbunden mit den Ideen der autogerechten Stadt. Bis in die 1970er Jahre dominierte diese städtebauliche Idee. Erst als die Menschen realisierten, dass sie zwar in einem mehr oder minder funktionierenden Gebilde aus Häusern und Straßen lebten, aber nicht mehr in einem für die Menschen geeigneten Stadtgefüge, kam der Umbruch. Die Internationale Bauausstellung in Berlin im Jahr 1987 gab einen wichtigen Impuls, die historische Stadt wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Erste Bauprojekte, beispielsweise in Kreuzberg und am Tiergarten, orientierten sich an der Neugestaltung von Straßenräumen, Platzkanten und Häusern mit menschlichem Maßstab. Diese Aufgabe ist bis heute nicht abgeschlossen: denken Sie nur an die vielen Städte, in denen breite Straßen die Innenstädte prägen und Fußgänger es wirklich schwer haben, diese Straßen zu überqueren.
In dem Prozess, die Stadt wieder zu einer kompakten Stadt zu entwickeln, war und ist die Leipzig Charta ein wichtiges Papier. All das, was wir als völlig normal empfinden, wurde in der Leipzig Charta erstmalig festgehalten: kurze Wege, attraktive Freiräume und Grünflächen, vor Lärm geschützte Räume, eine starke Innenstadt. Darüber hinaus beinhaltet die Leipzig Charta ein klares Bekenntnis zur Förderung benachteiligter Stadtquartiere und einer integrierten Stadtentwicklung. Sie steht für ein enges Miteinander der Fachdisziplinen und die Beteiligung der Akteursgruppen. Leipzig hat dies in den letzten zwei Jahrzehnten beispielhaft umgesetzt und in das Zielbild des neuen INSEK integriert. Nun geht es in den nächsten Jahren darum, das Wachstum unserer Stadt im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung auszugestalten.

Wie haben sich die Herausforderungen für die Stadtplaner aber auch für Leipzigerinnen und Leipziger in den vergangenen Jahrzehnten bis heute verändert bzw. entwickelt?

Lassen Sie mich an diesem Punkt etwas ausholen: Die Historie der Stadt hat schon immer eine entscheidende Rolle gespielt. In der DDR sind die Menschen nicht nur deshalb auf die Straße gegangen, um für mehr Freiheit zu kämpfen sondern auch um den weiteren Verfall der Innenstädte zu stoppen. Dieser Wunsch der Menschen beeinflusst die Stadtentwicklung bis heute. 1990 hieß es: „Ist Leipzig noch zu retten“. Leipzig wurde gerettet. Schaut man sich heute die Fotos aus dieser Zeit an, kann man sich kaum vorstellen, wie die Stadt vor nicht einmal 30 Jahren aussah. Leipzig hat dabei viel Erfahrung gesammelt bei der Sanierung vieler denkmalgeschützter Gebäude, ganz normaler Wohnhäuser, der Wiederbelebung öffentlicher Plätze, Gaststätten und Geschäfte. Parallel zum ersten großen Aufbau nach der Wende ging ein großer Teil der Industrie kaputt. Infolgedessen fielen zahlreiche Arbeitsplätze weg, gerade die jungen, qualifizierten Arbeitskräfte wanderten ab in Richtung Westen. Die Stadt schrumpfte um circa 100.000 Bewohner, dutzende Kindergärten und Schulen wurden geschlossen, umgenutzt oder abgerissen. In dieser Zeit war es wichtig, der Abwärtsspirale etwas Positives entgegenzusetzen.: z.B. die vielen Freiräume positiv ins Bewusstsein zu rücken, die sich erst aufgrund von Abwanderung und Abbruch ergeben hatten. Das ist uns gelungen: Die „Leipziger Freiheit“ hallte durch die gesamte Bundesrepublik. Darum haben uns viele beneidet.
Die Stadt Leipzig hat trotz der tiefen Krise nicht aufgegeben und hat aktiv an neuen Konzepten gearbeitet. Dieses Durchhaltevermögen wurde belohnt: neue Unternehmen kamen in die Stadt, die für neue Arbeitsplätze gesorgt haben. Mit ihnen kehrten auch die Menschen zurück in die Stadt. Mit diesem Aufwärtstrend entstanden neue Aufgaben, wie z.B. die Schaffung von (bezahlbarem) Wohnraum. Der verfügbare Leerstand allein konnte den Andrang an Zugezogenen nicht lange abfedern. Deshalb ist so wichtig, den Restbestand der leeren Gebäude zu sanieren und natürlich auch neue Wohnungen zu bauen – und das im Bestfall im Sinne der „Leipzig Charta“, im Sinne der kompakten europäischen Stadt. Hierfür eignen sich die ehemaligen Bahnflächen (Eutritzscher und Bayrischer Bahnhof, Fläche westlich Hbf), aber auch die großen Industriebrachen und die ehemals militärisch genutzten Flächen, teilweise mit denkmalsgeschützten Gebäuden in den mittleren und äußeren Bereichen der Stadt. Konversion und Revitalisierung gehören nun zum Tagesgeschäft. In der Praxis bedeutet das aber auch die Menschen mitzunehmen – und zwar nicht nur diejenigen, die finanziell gut dastehen, sondern auch die, die Unterstützung brauchen und alle an der Planung zu beteiligen.

Das Konzertgebäude Gewandhaus / © Appaloose

Wie soll das gelingen bei Mieten von 10€ pro Quadratmeter? Ist das noch sozialer Wohnungsbau?

Im Vergleich zu anderen deutschen Metropolen sind die Bestandsmieten in Leipzig immer noch günstig. Das muss man natürlich im Zusammenhang mit den geringen Gehältern betrachten. Als ich vor 5 Jahren von Berlin nach Leipzig kam, gab es bereits erste Diskussionen zum Neubau von sozialem Wohnungsbau. Auf Basis meiner Erfahrungen in Berlin, wo diese Themen schon länger zum Alltag gehörten, habe ich diese Punkte mit meinen Kollegen und der Politik sehr intensiv besprochen. Infolgedessen entwickelten wir relativ zeitnah das neue Wohnungspolitische Konzept, in dem der soziale Wohnungsbau zu einer der Hauptforderung gehörte. Im Zeitraum von 2017 bis 2019 erhalten Dresden und Leipzig jeweils 20 Millionen Euro jährlich. Für uns bedeutet das, dass mit den 60 Mio. € rund 1.500 Wohnungen gefördert werden können. Damit kann beim Neubau die aktuelle Angebotsmiete von derzeit 10€/qm auf 6,50 €/qm gesenkt werden. Insgesamt ist es wichtig neue Wohnungen zu bauen. Der Schwerpunkt liegt dabei bei kleinen Wohnungen – es gibt immer mehr Singles – und bei vielzimmrigen, kleinen Familienwohnungen. Unsere großzügigen Gründerzeitwohnungen mit drei bis vier Zimmern und viel Wohnfläche sind zwar wunderschön, entsprechen jedoch nicht den Finanzierungsmöglichkeiten vieler einer Familie mit zwei oder mehr Kindern. Sie brauchen mehr Räume auf weniger Quadratmetern. Daneben gibt es noch die Gruppe der Senioren, die sich oftmals gut und gerne damit arrangieren können, ihre großen Wohnungen für kleinere, dafür aber altersgerechte Wohnungen aufzugeben. Ein anderer, aber sehr wichtiger Punkt ist die Stärkung von Eigeninitiativen: die Stadt wird Grundstücke nicht mehr an den Meistbietenden, sondern nur noch auf Basis von inhaltlichen Konzeptvergaben veräußern. So haben auch alternative Gruppen weiterhin die Chance, Grundstücke zu erwerben und mit gemeinsamen Konzepten zu bebauen.
Zum Thema ‚Wohnen’ gehört zwangsläufig auch das Thema Infrastruktur: Eine Stadt wie Leipzig hat sehr viele junge Einwohner. Dementsprechend viele Kinder kommen zur Welt, die alle einen Kindergartenplatz benötigen. Anders als in München oder Frankfurt sind über 80% der in Leipzig lebenden Mütter berufstätig, sprich wir brauchen ausreichend Kindergarten- und Schulplätze. Auch das gehört zu unseren Pflichtaufgaben.

Hat die Stadt Leipzig denn überhaupt genügend Freiflächen für den Bau von Wohnungen, KiTas und Schulen?

Leipzig hat noch viele Baulücken und Brachflächen, aber bezogen auf den Bedarf einer wachsenden Stadt wird Grund und Boden, auch weil wieder vermehrt damit spekuliert wird, deutlich knapper. Deshalb geht es darum Flächen effektiv(er) zu nutzen, nicht mehr nebeneinander sondern übereinander zu bauen und Mehrfachnutzungen zu schaffen. In den nächsten 12 Jahren stehen 80 neue Kindergärten und 80 neue Schulen auf unserem Bauprogramm. Das schaffen wir als Stadt nicht allein – hier sind wir definitiv auf Unterstützung und Fördermittel des Landes und des Bundes angewiesen.

Wir sprechen hier viel über die Verantwortungsbereiche der Stadt. Lassen Sie uns kurz noch einmal zum Thema bezahlbarer Wohnraum kommen: Wie ziehen Sie denn neben Projektentwicklern und Investoren auch Eigentümer zur Verantwortung, sich an dieser Stelle aktiv einzubringen?

Da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Wir haben eine Wohnungsbaugesellschaft, die ganz klare Eigentümerziele verfolgt. Zu den Wichtigsten gehört bezahlbarer Wohnraum, sowohl im Bestand als auch beim Neubau. Darüber hinaus gibt es viele Genossenschaften, mit denen wir kontinuierlich über das Thema kommunizieren. Unser Ziel ist es, mit ihnen ein ‚Bündnis für bezahlbares Wohnen’ zu schließen, wie es schon viele andere Großstädte getan haben. Natürlich verhandeln wir auch mit privaten Investoren.. Der Stadtrat hat beschlossen, dass auch in Leipzig das Instrument der ‚sozialgerechten Bodenordnung’ angewendet wird, das in München seinen Ursprung hat: jeder Eigentümer, der mehr als 50 Wohnungen bauen möchte, für die ein Bebauungsplan erforderlich ist, ist dazu verpflichtet, 30% der Wohnungen im preiswerten Segment anzubieten. Dazu ist es nötig, dass ausreichend Fördermittel des Freistaates zur Verfügung stehen. Bei der Sanierung von Wohnungen besteht die Möglichkeit mithilfe von Fördermitteln auf einen Mietpreis von unter 6,50€ zu kommen. Alle geförderten Wohnungen sind für 15 Jahre belegungsgebunden, das heißt in diesem Zeitraum dürfen sie nur an Interessenten mit einem Wohnberechtigungsschein vermietet werden.  Bei den großen Quartiersentwicklungen, wie z.B. am Leipziger HBF und am Eutritzscher Freiladebahnhof, haben wir zusätzlich städtebauliche Verträge mit Eigentümern geschlossen, die darüber hinaus eine Mitfinanzierung der wohnungsbezogenen Infrastruktur – Kitas, Schulen und Grünflächen – beinhalten. Um es auf den Punkt zu bringen: zur Schaffung von Wohnraum und in der Entwicklung einer gemischten, kompakten, europäischen Stadt müssen alle Akteure an einem Strang ziehen und Verantwortung übernehmen.

Auch die Schaffung von attraktiven Freiräumen gehört zu den Aufgaben der Stadt. Hier die richtige Balance zwischen Dichte und Freiräumen zu finden, ist nicht immer einfach. Ist Leipzig eine grüne Stadt?

Leipzig hat durch die Auenlandschaft und ihre Verbindung in das nördliche und südliche Seenland ganz besondere Freiraumqualitäten. Darüber hinaus haben wir im Zuge des Stadtumbaus in vielen Gebieten neue Stadtteilparks geschaffen. Wenn wir das Ziel verfolgen, eine kompakte Stadt zu werden, bedeutet dies: zu sehr eng bebauten Gebieten gehören kompakte Freiflächen. Bei der Nutzbarkeit von Grünflächen gibt es allerdings große Unterschiede. Der Gedanke der Stadtlandschaft der Moderne sieht beispielsweise vor, dass jedes Gebäude von Grün umringt wird. Viele Quartiere, die in den 1960er und 1970er Jahren gebaut wurden, haben dieses typische ‚Abstandsgrün’. Problematisch dabei ist jedoch, dass diese häufig ungepflegten Flächen nicht genutzt werden. Sehen Sie sich dagegen die Stadtbereiche aus dem Mittelalter oder der Gründerzeit an, dann fällt auf, dass sie wahnsinnig dicht bebaut sind. Sie besitzen jedoch entweder Innenhöfe, die von den Bewohnern aktiv genutzt werden oder Straßen und Plätze mit Geschäften und Restaurants und Bäumen und kleinen Wiesenflächen. Solche Räume sind attraktiv für Menschen.

In dem INSEK 2030 wird in diesem Zusammenhang auch von ‚doppelter Innenentwicklung’ gesprochen. Könnten Sie dies kurz erläutern?

Wenn Brachflächen in der inneren Stadt bebaut werden, gehen Freiräume und ökologisch wertvolle Bereiche verloren. In der doppelten Innentwicklung geht es – neben dem nach dem Baugesetzbuch verpflichtenden Ausgleich – darum, gleichzeitig mit Gebäuden auch neue Grün- und Freiraume zu schaffen. Dabei spielen auch Dach- und Fassadenbegrünung oder die Mehrfachnutzung von Freiflächen eine wichtige Rolle. Bei den Themen Straßenbäume oder begrünte Dächer hat Leipzig allerdings noch Luft nach oben.

Das Opernhaus auf dem Augustusplatz

Das INSEK 2030 unterteilt die Stadtteile Leipzigs u.a. in sogenannte ‚Fachübergreifende Schwerpunktgebiete’, d.h. in Bereiche, die speziell gefördert und weiterentwickelt werden sollen. Anhand welcher Kriterien legen Sie fest, welche Stadtteile zu dieser Gruppe dazu gehören?

Durch das INSEK setzen wir räumliche Handlungsschwerpunkte. Einmal in Gebieten, die besondere Potenziale für die künftige Stadtentwicklung haben, wie z.B. Innenstadt, Nordraum sowie Grün- und Gewässerverbund, aber auch für Gebiete, die in Anlehnung an die Leipzig Charta besondere Unterstützung brauchen, um den Anschluss an die Entwicklung der Gesamtstadt nicht zu verlieren. Die Festlegung speziell zu fördernder Gebiete ist ein kontinuierlicher Prozess. Prinzipiell wählen wir solche Gebiete aus, in denen es neben dem baulichen Handlungsbedarf auch soziale und wirtschaftliche Herausforderungen gibt. Das kann bedeuten, dass es Defizite in der Grünversorgung gibt, die Kinder besondere Bildungsangebote benötigen, viele Rentner, aber auch Familien mit Kindern von Transfergeld leben oder z.B., dass die kleinen Unternehmen vor Ort Unterstützung brauchen. Viele der in den letzten Jahren so identifizierten Gebiete haben sich mittlerweile fantastisch entwickelt, wie zum Beispiel der Leipziger Westen. Neue Gebiete wie Mockau kommen hinzu, andere wie beispielsweie Grüne benötigen weiterhin Unterstützung.

Für die im INSEK ausgewiesenen Schwerpunktgebiete der integrierten Stadtteilentwicklung sind vorrangig Möglichkeiten für die Akquisition und den Einsatz von Förderprogrammen des Bundes, des Landes und der EU zu prüfen. Die Festlegung der Gebiete wird kontinuierlich an Hand von Indikatoren überprüft und ggf. werden die Abgrenzungen angepasst. Die Festlegung der Fördergebiete erfolgt durch Beschluss des Stadtrates. Der hohe Handlungsbedarf in diesen Gebieten erfordert eine integrierte Strategie, die gemeinsam mit Fachämtern, Politik, lokalen Akteuren und Bewohnern erarbeitet wird und durch den Stadtrat als Stadtteilentwicklungskonzept beschlossen wird. In der Umsetzung werden dann die Aktivitäten der Fachämter gebündelt und Projekte auch aus der Bürgerschaft unterstützt. Gleichfalls werden Instrumente wie beispielsweise Quartiersmanagement, Stadtumbaumanagement oder auch Magistralenmanagement eingesetzt. Die Managements bilden die Brücke zwischen Stadtteil und Verwaltung und arbeiten interdisziplinär und neutral.

Gibt es auf Basis Ihrer bisherigen Erfahrungen Aspekte, die einen ‚guten Stadtteil’ ausmachen?

Ein “guter Stadtteil“ zeichnet sich in meinen Augen durch eine ganze Reihe von Eigenschaften aus. Dazu gehört eine intakte Bausubstanz, aber auch gemischte Nutzergruppen. Es gibt junge, aktive Bewohner und viele Kinder – alle anderen Altersgruppen sind aber auch vertreten und freuen sich über das Miteinander der Generationen. Gut nutzbare Grünflächen, kurze Wege zu Kitas und Schulen und alle notwendigen Infrastrukturen bestimmen den hohen Lebenswert des Viertels. Für das tägliche Leben gibt es ausreichend Geschäfte, aber auch urige Kneipen und Kultur. Vieles ist fußläufig oder bequem und sicher per Fahrrad zu erreichen, das Gebiet verfügt aber auch alle notwendigen Zugänge zum ÖPNV. Das Ergebnis ist, dass sich Bewohnerinnen und Bewohner einfach gern in ihrem Quartier aufhalten.

Ist der Fahrradverkehr ein großes Thema in Leipzig?

Auf jeden Fall. Nach vielen Diskussionen ist sich die Fachwelt inzwischen einig, dass das Fahrrad auf die Straße gehört. In Leipzig gibt es bereits viele gut ausgebaute Fahrradwege, aber das Potenzial ist noch längst nicht erschöpft. Dennoch muss man auch akzeptieren, dass auf manchen Straßen zu wenig Platz ist, um qualitativ hochwertige Fahrradbahnen einzurichten. Fußgänger brauchen Platz, die Straßen sollen begrünt sein, die Straßenbahn soll zügig fahren und an Parkplätzen soll es auch nicht mangeln – das sind viele Wünsche, die nicht immer alle erfüllt werden können. Im Endeffekt muss jede Straße mit ihren Möglichkeiten individuell betrachtet werden.

Vor dem Hintergrund des stetigen Wachstums und den vielen Veränderungen: Kann Leipzig aus baukultureller Sicht seine identitätsstiftende Architektur künftig bewahren?

Leipzig blickt auf eine über tausendjährige Geschichte zurück. Leipzig ist eine Bürgerstadt und über viele Jahrhunderte auch eine reiche Stadt gewesen – daran erinnern die wunderschönen Gründerzeitbauten. Aber auch während der DDR-Zeit und in den vergangenen Jahren herausragende Gebäude entstanden –  denken Sie nur an unsere wunderschöne Oper, das Gewandhaus oder das Uni-Hochhaus. Wenn wir von Baukultur sprechen, dürfen wir das Gefühl nicht vergessen, das uns mit einer Stadt verbindet. In Leipzig gibt es viele Gebäude, die als Siegerentwürfe aus Wettbewerben hervorgegangen sind. Entsprechend hoch ist ihre Qualität. Dieses Prinzip verfolgen wir nach wie vor. Alle zwei Jahren wählen wir die besten Gebäude im Neubau aus und prämieren im Jahr dazwischen qualitativ hochwertig sanierte Denkmäler, um sie ins Bewusstsein der Menschen zu bringen und Investoren nachahmenswerte Beispiele zu zeigen.  Auch beim Neubau von Schulen und Kindergärten achten wir auf hohe Qualität. Ich denke, das Gefühl für Schönheit ist in Leipzig sehr viel ausgeprägter als in anderen Städten.

Denken Sie, dass sich auch die Anforderungen an das Thema Stadtentwicklung verändert haben, weil die Geschwindigkeit und Komplexität politischer, sozialer und gesellschaftlicher Entwicklungen zugenommen hat?

Der Umgang mit der Stadtentwicklung hat sich auf jeden Fall verändert. Zu Beginn meines Arbeitslebens Ende der 1970er Jahren haben die Wohnungsbaukombinate ihre Angebotsprojekte – Bauklötze – geliefert und wir Planer haben damit städtebauliche Entwürfe. Natürlich haben auch wir versucht Wohngebiete zu entwickeln, in denen sich die Bewohner wohl fühlen. Bürgerschaftliches Engagement beschränkte sich in diesem Zusammenhang auf die Gestaltung von Spielplätzen, Vorgärten oder Balkonen. Der heutige Stadtentwicklungsprozess verläuft ganz anders: an den meisten Verfahren beteiligen sich Investoren, Fachleute, Architekten und Stadtplaner, aber auch Bürgerinnen und Bürger – sei es in Werkstattverfahren, in kleinen und großen Diskussionsrunden oder in einem der vielen weiteren analogen oder digitalen Beteiligungsverfahren. Ich denke, die Bewohnerinnen und Bewohner können mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung und nicht zuletzt mit ihrer Verbundenheit mit Leipzig eine Menge zur Weiterentwicklung unserer Stadt beitragen. Dieses Potenzial müssen wir auf jeden Fall nutzen.

Vielen Dank für das anregende Gespräch.

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Dorothee Dubrau

ist Diplom-Architektin und seit 2013 Bürgermeisterin und Beigeordnete für Stadtentwicklung und Bau der Stadt Leipzig. Seit 1993 ist sie Mitglied im Aufsichtsrat des Versorgungswerkes der Architektenkammer Berlin / Brandenburg, dessen Vorsitz sie 1997 übernahm. Neben ihren Tätigkeiten als Professorin an der Beuth-Hochschule Berlin sowie der TU Darmstadt arbeitete Dorothee Dubrau als selbstständige Architektin. Zudem hat sie langjährige Erfahrung als Bezirksstadträtin für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen in Berlin Mitte sowie Prenzlauer Berg.

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Nach einem ersten Besuch der polis Convention 2019 präsentiert sich die Metropolregion Mitteldeutschland auch auf der polis Convention 2020.

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