VERENA SCHREIBER: STADT UND FAMILIE. NAHTSTELLEN UNSERER GESELLSCHAFT

© Fion Zirlewagen

Für so manche Pädagogik ist die Stadt bis heute ein Schreckgespenst ohne Erlebnisqualität für Familien geblieben, ein bedrohliches Umfeld, das unsere Kinder zwangsläufig vom rechten Weg abbringe. Im konkreten Erleben von Eltern und Kindern hingegen kann die städtische Umwelt ein Milieu mannigfaltiger Begegnungen und Anregungen sein. Hier versuchen Familien tagtäglich ihr Glück zu machen, bekommen jedoch auch vielfach zu spüren, was es heißt, am Rande der Gesellschaft zu stehen. Aus einem machtanalytischen Blickwinkel wiederum ist die Stadt Schauplatz und Motor moderner Regierungskunst und die Stadtplanung eine ihrer wertvollsten Verbündeten, mit deren Hilfe sich eine gewünschte familiäre Ordnung sicherstellen lässt. Den Vertreterinnen und Vertretern der Stadtforschung schließlich muss die Familie gänzlich banal erscheinen; in den einschlägigen Werken sucht man explizite Bezüge zur Familie meist vergeblich.

Die Suche nach Verbindungslinien

Angesichts der Vielfalt an möglichen Annäherungen möchte der Beitrag vor allem zur Suche nach Verbindungslinien, konkurrierenden Betrachtungsweisen und Perspektivwechseln anregen. Zwar bleiben Stadt und Familie in unserer Vorstellung wohl immer ein Stück weit unvereinbar und wenn wir uns eine glückliche Familie ausmalen, dann in den wiesengrünen Farben einer ländlichen Idylle. Stadt und Familie weisen jedoch auch viele Parallelen auf, sie sind gleichermaßen Knotenpunkte von privaten und öffentlichen Abhängigkeiten. Sie sind Nahtstellen kultureller, ökonomischer und politischer Umbrüche, Gegenstand von Konflikten um Werte sowie Labore für die Erprobung alternativer Lebensentwürfe. Was in Städten passiert, lässt sich ohne Berücksichtigung der Familie oft gar nicht richtig verstehen. Und umgekehrt nehmen viele Veränderungen des Familienbildes und -lebens ihren Ausgang in der Stadt.

Familie und Stadt im Wandel der Zeit

Im Zuge der Industrialisierung etwa zog es viele Menschen aus den ländlichen Gebieten zur Arbeit in die Städte, was eine massive Verdichtung der Bebauung zur Folge hatte. Insbesondere die Bewohnerinnen und Bewohner der Arbeiterviertel waren verheerenden hygienischen Bedingungen ausgesetzt. In weiten Teilen der Stadt herrschte Not und Elend. Nichtsdestotrotz bot sich unter diesen prekären Umständen vor allem jungen Frauen die Möglichkeit, als Fabrikarbeiterinnen oder Dienstmädchen ihr eigenes Geld zu verdienen und von ihren Elternhäusern unabhängiger zu werden. Die industrielle Großstadt war also auch ein Ort der Emanzipation von vorherrschenden Geschlechterrollen. Die damit verbundenen Veränderungen der Familienstrukturen, sinkende Heirats- und Geburtenraten, blieben gleichwohl nicht unbeachtet und riefen neue kommunale Ordnungstechniken auf den Plan. Ziel der Stadtplanung war, so die Stadtforscherin Susanne Frank, fortan dieser „heillosen Unordnung“ der Geschlechterverhältnisse ein Ende zu bereiten und dem moralischen Verfall der Familie und ihrer Gefährdung als Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft durch einen radikalen Umbau der städtischen Umwelt entgegenzuwirken. Als in der Konsequenz unsere Städte in einzelne Funktionsbereiche zerteilt wurden, blieb das für die Familie nicht folgenlos. Die Spaltung der Stadt zog sich quer durch die Familie, band Männer an den öffentlichen Raum der Lohnarbeit, während Frauen in den privaten Bereich des Hauses gedrängt und aus der städtischen Öffentlichkeit weitgehend verbannt wurden. In Suburbia fand dieses bürgerliche Familienmodell seine räumliche Entsprechung.

Die moderne Familie in der Stadt

Heute hingegen zeigt sich ein vielfältigeres Bild. Die Industrie ist großteils aus den Städten verschwunden. An die Seite der traditionellen Kleinfamilie sind neue familiäre Lebensweisen getreten und Frauen sind vermehrt berufstätig. Das alles macht auch die innerstädtischen Quartiere als Wohnorte für Familien wieder interessant. An der grundsätzlichen Verbindung von Stadtplanung und Familie haben diese Entwicklungen jedoch nichts verändert, im Gegenteil: Mit dem Bedeutungsgewinn des Quartiers als Handlungsebene von Stadtpolitik ist eine weitere, nicht mehr nur auf ihre Defizite fokussierte, sondern an ihren Ressourcen orientierte Perspektive auf Familien hinzugekommen. Das populäre Integrationsprojekt der „Stadtteil-Mütter“ beispielsweise adressiert gezielt (post)migrantische Frauen, um einen Zugang zu Familien zu erlangen, die gemeinhin als „korrekturbedürftig“ und „schwer erreichbar“ gelten. An anderer Stelle wiederum werden Familien von „Bildungslandschaften“ umringt, die den Alltag von Kindern als eine lückenlose, sich potenziell selbst steuernde Zirkulation durch Institutionen wie Gesundheitsförderung, Kultureinrichtungen oder Sportstätten zu organisieren versuchen – mit der Schule als Ausgangspunkt und Zentrum. Erziehungsexpertinnen und -experten unterschiedlichster Professionen arbeiten hier gemeinsam daran, die Beziehung zwischen Eltern und Kind nachzujustieren.

Raumstrategien und die familiäre Ordnung

Wenngleich derartige Raumstrategien darauf ausgelegt sein mögen, eine gewünschte familiäre Ordnung herbeizuführen, so ist das Erleben der städtischen Umgebung dennoch kein Widerhall ihrer Beschaffenheit. Auch die städtische Umwelt wird von Familien anders erlebt und vielfältiger genutzt, als es vorgesehen und vielen Recht sein mag: wenn Eltern mit ihren Kindern freitags auf die Straße gehen, um ihrer Sorge um die Welt Ausdruck zu verleihen; wenn Sanctuary Cities das Recht auf Teilhabe an Stadtgesellschaft einfordern, und zwar unabhängig von Nationalität und Aufenthaltsstatus, und damit verhindern, dass Familien getrennt werden; oder wenn neue solidarische Hausprojekte entstehen, die nicht nur tradierte Familienmodelle hinterfragen, sondern sich angesichts steigender Immobilienpreise zum Ziel gesetzt haben, Wohnraum dem Markt zu entziehen.

Solche Entwicklungen und Initiativen verweisen beispielhaft auf die vielen Nahtstellen, an denen sich Stadt und Familie berühren. Beiden wohnt das Potenzial inne, Veränderungen anzustoßen und ein solidarisches Verständnis von Gesellschaft gegenwärtigen Verdrängungs- und Abschottungstendenzen entgegenzusetzen. An vielen Familien, die etwa in einem sogenannten Brennpunktviertel leben, die keinen Wohnraum finden oder große Teile ihres Einkommens für die Miete aufbringen müssen, gehen die emanzipatorischen Impulse der Stadt allerdings vorbei. Die Stadt ist keine „Befreiungsmaschine“ aus sich heraus und Familien sind in mehrfacher Hinsicht an Ausgrenzungsprozessen selbst beteiligt. Diese Spannungen sollten wir zum Anlass nehmen, der Beziehung von Stadt und Familie vermehrt Beachtung zu schenken und als Aufforderung verstehen, ihre wechselseitige Durchdringung aus immer neuen Perspektiven zu betrachten.


VERENA SCHREIBER

studierte Geographie, Katholische Theologie und Deutsche Philologie an der JGU Mainz. Anschließend war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Mainz, Osnabrück und an der Goethe-Universität Frankfurt am Main tätig. Seit 2015 hat sie die Junior-Professur für Humangeographie und ihre Didaktik an der PH Freiburg inne. Ihr Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Geographies of Childhood, Families and Education, der Stadtforschung, Machtforschung sowie der Feministischen Pädagogik.

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