DR. ULRIKE LORENZ: KULTURELLER MEILENSTEIN

© Candy Welz, Klassik Stiftung Weimar

Obwohl Sie bereits im Mai 2019 Mannheim verlassen haben, wird Ihr zehnjähriges Wirken als Direktorin der Kunsthalle Mannheim in der Stadt sicherlich noch viele Jahre zu spüren sein. Sie haben den Neubau der Kunsthalle nicht nur verantwortet, sondern auch maßgeblich vorangetrieben. Kunst und Kultur sind wichtige Antriebskräfte der Stadtentwicklung. Welchen Impuls hat der Neubau der Kunsthalle dahingehend gesetzt?

Das außergewöhnliche Architekturensemble und die deutschlandweit wahrgenommene, inhaltliche Neuprofilierung der Kunsthalle haben – so hoffe ich – einen zentralen Impuls für die öffentlichkeitswirksame Darstellung Mannheims als Kulturstadt geliefert. Während dem Nationaltheater die infrastrukturelle und architektonische Zukunftssicherung noch bevorsteht, stärkt die Kunsthalle seit ihrer erfolgreichen Eröffnung im Juni 2018 maßgeblich die überregionale Strahlkraft der Stadt.

Denken Sie, dass hierdurch eine Art positiver Dominoeffekt für die Stadtentwicklung entstanden ist?

Das hoffe ich. Mannheim setzt ja seit Jahren einen besonderen Fokus auf niveauvolle Architektur und innovative Stadterneuerung. Das hat mir gut gefallen. Daher haben wir für unsere Neubau-Planung auch starken Rückenwind in Politik und Gesellschaft erhalten. Wir konnten am Friedrichsplatz Standards in architektonischer, urbaner und kultureller Hinsicht setzen. Ich hoffe, dass sich diese Entwicklung fortsetzt.

Die Architektur des Baus gewährt dem Besucher immer wieder Blicke nach draußen, in die urbane Wirklichkeit, und fungiert so als Stadt in der Stadt. Wie wichtig ist es, diese Bezüge zur Realität zu erfahren, während man umgeben ist von Kunstwerken aus verschiedenen Epochen, die Gedankenräume eröffnen?

Das war für uns ein ganz entscheidender Aspekt und ein Grund dafür, dass wir uns im Wettbewerb für den Entwurf von gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner entschieden haben. Die Verzahnung von Museumsinstitution, urbanem Raum und Gesellschaft ist essenziell für die Zukunft der Kunsthalle Mannheim. Seit ihrer Gründung wird hier ein spezifisch demokratischer Museumsbegriff vertreten, sprich: Die offene Auseinandersetzung mit den Fragen der Gegenwart ist ein zentraler Punkt der Philosophie des Hauses. Dass sich der Besucher während seines Rundgangs jederzeit orientieren kann und nicht völlig in eine Parallelwelt abdriftet, halte ich für enorm wichtig. Museumsbauten, in denen wir uns wie in einem U-Boot bewegen, um nach zwei Stunden aufzutauchen und uns erst einmal im Alltag wieder neu verorten müssen, halte ich für fatal. Die Kunsthalle ist offen, gleichsam porös und ermöglicht höchst anregende Innen-Außen-Beziehungen. Der stete Wechsel der Atmosphären, den die Besucher flanierend entdecken, reichert das Museumserlebnis an. An den Reaktionen unseres Publikums konnten wir das sehr gut nachvollziehen: Erfrischend, herausfordernd, Neugier erweckend, kommunikativ anregend – da sind sich bislang fast alle einig. Man könnte fast sagen, das Museum ist ein Werkzeug, mit dem man sein eigenes Leben modellieren kann.

Sie sagten einmal, dass das Museum in die Gesellschaft eingreifen muss. Inwieweit ist die Kunsthalle also auch ein gesellschaftspolitischer Erlebnisort?

Ziel unseres Konzepts war und ist es, die traditionelle Definition eines Kunstmuseums aufzubrechen und etwas anderes zu wagen. Etwas, das nicht in Konventionen verhaftet ist und das Potenzial besitzt, eine ganz neue, gesellschaftliche Relevanz zu entfalten. Ich kann sagen, dass wir im ersten Jahr nach Eröffnung des Neubaus mit unserem Programm und unserem frischen Auftritt völlig neue Besucherschichten, auch jüngere Generationen, ansprechen konnten.

Jetzt lässt sich das Ganze natürlich auch umgekehrt betrachten. Inwieweit hat die Gesellschaft auch die Möglichkeit in das Museum einzugreifen?

Fritz Wichert, der Gründungsdirektor der Kunsthalle, sprach um 1910 von einer „Kunst für alle“. Sie sollte durch populäre Vermittlungs- und Bildungsprogramme allen Schichten der Stadtgesellschaft verständlich werden. Diese Vision versucht die Kunsthalle seit über 100 Jahren fortzuschreiben. Mit unserem „ProgrammPlus“ haben wir neue partizipative Strategien entworfen und den Kontakt zu sehr unterschiedlichen Vereinen und Initiativen in der Stadt hergestellt, mit denen wir in Zukunft auch an kuratorischen Konzepten arbeiten wollen. Es gilt, viele Menschen zu ermutigen, sich in unsere Arbeit einzuklinken – Menschen, die bislang gar nicht auf den Gedanken gekommen sind, die Kunsthalle für ihre Lebensgestaltung zu nutzen.

Kunst für alle ist immer ein schwieriges Thema. Insbesondere in Städten, die von soziokultureller Vielfalt geprägt sind mit unterschiedlichen Einkommens-, Herkunfts- und Bildungsschichten.  

Natürlich muss man das Motto „Kunst für alle“ in seiner Zeit sehen. Wir verstehen es als ein ambitioniertes Ziel, dem wir uns annähern – wohlwissend, dass es nie vollständig zu erreichen sein wird. Kunst kann nicht für alle Menschen eine gleich große Rolle spielen. Es gibt nicht nur sehr viele Angebote, sondern auch ganz unterschiedliche Perspektiven auf das Leben. Gleichwohl versuchen wir, die Kunsthalle Mannheim im Selbstverständnis und in ihren Angeboten so weit zu öffnen, dass sich deutlich mehr Menschen angesprochen fühlen, den Schritt über unsere Schwelle zu wagen. Daran wird das Haus auch in Zukunft mit aller kreativer Kraft arbeiten.

In diesem Zusammenhang wird sicherlich auch das Thema Digitalisierung eine große Rolle spielen. Inwieweit muss ein klassisches Museum den Sprung in die digitale Welt wagen, um zu überleben?

Ich halte das für eine zentrale Zukunftsfrage im Museumsbereich. Und nicht nur dort. Die digitale Strategie, die wir für die Kunsthalle entwickelt haben, ist keineswegs nur technische Spielerei. Vielmehr stand für uns der Vermittlungsauftrag im Mittelpunkt. Wir haben digitale Werkzeuge entwickelt und in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang gestellt, um Kommunikation zu fördern. Das Digitale ermöglicht dem Museum, aus seinen Mauern heraus- und in den Alltag vor allem auch jüngerer Menschen einzutreten und sich als ein flexibler, lebendiger Gesprächspartner anzubieten.

Führt nicht Digitalisierung letzten Endes dazu, dass der Mensch sich den Museumsbesuch spart, da er die Kunst auch digital konsumieren kann? 

Diese Befürchtung, die wir anfangs durchaus diskutiert haben, hat sich weltweit nicht bewahrheitet – ganz im Gegenteil: Je besser die Menschen über Angebote informiert sind, desto stärker fühlen sie sich animiert, diese auch tatsächlich wahrzunehmen. Das Digitale ist niemals allein zu begreifen, sondern komplementär zum wirklichen, also physischen und emotionalen Erlebnis, das wir bieten. Kommunikation, Inspiration entsteht vor allem in der Gemeinschaft, im Austausch mit Anderen. Je stärker die Digitalisierung in dieser Welt um sich greift, desto wichtiger wird der direkte Kontakt mit der Realität und den Mitmenschen. Das Museum kann diese Kontaktfläche schaffen; es funktioniert als ein Mediator zwischen beiden Welten.

Hans Werner Hector (SAP) hat 50 Mio. für den Neubau gespendet. Wie wichtig sind lokale „Supporter“? Und was wäre ohne diesen Support passiert?

Private Unterstützung ist für jedes Museum heutzutage überlebenswichtig. Die außergewöhnliche mäzenatische Tat von Hans Werner Hector war für die Kunsthalle Mannheim ein Fanal. Die öffentliche Hand allein wäre nicht in der Lage gewesen, einen Neubau zu stemmen. Ohne seine Initiative gäbe es die neue Kunsthalle nicht. Er hat mit seiner Großspende nicht nur die Stadt herausgefordert, sondern bewusst auch andere private Spender eingeladen, mitzumachen. Er hat alle motiviert, sich dieser damals unvorstellbaren Aufgabe zu stellen: am schönsten Platz Mannheims ein öffentliches Kunstmuseum und damit zugleich die Stadt neu zu gestalten. Das war definitiv ein riesiger Glücksfall. Allgemein lässt sich sagen: Der Kulturbereich, der für die Zukunft dieses Landes eminent wichtig sein wird – denn Kultur hält uns im Innersten zusammen –, wird künftig mehr auf private Unterstützung angewiesen sein. Wenn wir die Demokratie in unserem Land für die Zukunft fit machen wollen, brauchen wir das Engagement der Bürgerinnen und Bürger und eben auch besonderer Menschen, die bereit sind, ihr Geld und ihre Ressourcen der Gesellschaft im Ganzen wieder zugutekommen zu lassen.

Im Zuge des Wiederaufbaus der Notre Dame wurde das Thema „private Spenden“ in den Medien rege diskutiert und kritisiert. Investitionen im Kulturbereich stehen unweigerlich in Konflikt mit Investitionen im sozialen Bereich. Wie lässt es sich vermeiden, dass beides gegeneinander ausgespielt wird?

Kultur und Soziales dürfen nicht getrennt voneinander, sondern müssen als Einheit betrachtet werden. Kultur spiegelt Soziales; soziale Probleme sind kulturelle Probleme und umgekehrt. Es bleibt eine schwierige, aber lohnende und beglückende Aufgabe, beides im Zusammenhang produktiv voranzutreiben.

Müssen sich Kulturinstitutionen vielleicht stärker politisch einbringen und politisch beratend fungieren?

Das ist eine wichtige Frage. Ich bin der Überzeugung, dass große Kulturinstitutionen politisch aktive Mitspieler im gesellschaftlichen Gesamtkonzert sind und diesen Anspruch auch haben müssen. Museen, Archive und Bibliotheken arbeiten am kulturellen Gedächtnis, das immer mit Wertvorstellungen zusammenhängt. Wir stehen in der besonderen Verantwortung, die kulturellen Ressourcen nutzbar zu machen – für die Existenzfragen unserer Gegenwart. Das ist ein zutiefst politisches Selbstverständnis. Vielleicht könnten große Kulturinstitutionen heute sogar Politik beraten. Wenn Menschen Orientierung suchen, braucht es starke, überzeugende Geschichten. Wer, wenn nicht Museen, Archive und Bibliotheken, sollte diese Geschichten bieten? Geschichten, die auf Historie und Erfahrung beruhen und die Lust auf Differenz und Differenzierung machen, statt auf Vereinfachung und Eindimensionalität zu setzen. Komplexität kann als eine Chance begriffen werden; sie ist Ressource für Information und Kreativität.

Sie blicken auf zehn Jahre Arbeit in Mannheim zurück. Was würden Sie Mannheim – insbesondere im Kulturbereich – für die kommenden zehn Jahre wünschen?

Dass das Großprojekt „Sanierung Nationaltheater“ zügig und erfolgreich über die Bühne geht. Und ich hoffe, dass es auch künftig unerwartete, positiv überraschende Impulse in der Kulturszene Mannheims geben wird, die ich als sehr dicht, offen und vielfältig empfunden habe – quasi analog zur Wiedererfindung der Kunsthalle, mit der eigentlich keiner gerechnet hatte.

Was nehmen Sie aus Ihrer Erfahrung in Mannheim nun mit nach Weimar?

Das Verständnis dafür, wie man eine Institution in Bewegung setzen kann. Etwas Gegebenes und Gewohntes zu verändern – das ist gar nicht so einfach. Es fängt mit dem ersten Schritt an und es braucht in jedem Fall viele verschiedene Unterstützer. Entscheidend ist, ein starkes Ziel zu formulieren und einen Gesamtzusammenhang herzustellen, der Eigendynamik entfaltet. Dass das in einem überschaubaren Feld gelingen kann, habe ich in Mannheim gelernt – eine tolle Erfahrung. Die Klassik Stiftung Weimar fordert mich nun heraus, meine Erfahrungen und Kenntnisse in einer komplexen Struktur mit einem großen Team wirksam werden zu lassen. Wir werden sehen, was sich hier bewegen lässt.

Vielen Dank für das anregende Gespräch.


Dr. Ulrike Lorenz

studierte Kunstwissenschaft und Archäologie an der Universität Leipzig und promovierte an der Bauhaus-Universität Weimar. Von 1990 bis 2004 war sie Direktorin der Kunstsammlung Gera mit Otto Dix Haus – 2002 übernahm sie zudem die Leitung des Stadtmuseums Gera. Von 2004 bis 2008 war sie Direktorin des Kunstforums Ostdeutsche Galerie in Regensburg. 2008 erhielt sie dort den Friedrich-Baur-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Von 2009 bis 2019 war sie Direktorin der Kunsthalle Mannheim, wo sie die Eröffnung des Neubaus der Kunsthalle Mannheim mit dynamischem Museumskonzept und Digitalstrategie maßgeblich verantwortete. Für ihre Arbeit in Mannheim wurde ihr die Goldene Ehrennadel des Frauenbrücke-Preises für die innere Einheit Deutschlands verliehen. Seit August 2019 ist Ulrike Lorenz Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar.

 

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