
© Jo Neander
Alle kennen Wolfsburg. Die beeindruckende Silhouette des VW-Werkes vom ICE-Fenster aus, davor die Autostadt, unter anderem mit ihrer kurios anmutenden Teststrecke entlang des Mittellandkanals. Und auf der anderen Seite: das beeindruckende UFO-artige Gebäude des phaeno von Zaha Hadid und dann kilometerlang Parkplätze für Werksangestellte. Der erste Blick auf die Stadt lässt einen nicht schlau werden, was hier zu erwarten ist. Es lohnt sich auszusteigen und sich auf diese besondere Stadt einzulassen.
Das Sich-Einlassen kann bereits am Bahnhof beginnen, einem denkmalgeschützten Kleinod aus den 50er Jahren. Das Bahnhofsgebäude steht stellvertretend für die Baugeschichte Wolfsburgs. Verstreut zwischen mehr, aber auch weniger gelungenen Architekturen der jüngsten Zeit, finden sich Perlen wie das Alvar Aalto Kulturhaus, das Scharoun-Theater und schmucke Wohnsiedlungen aus den 50er Jahren – in Wolfsburg kann man die Bauten der Nachkriegsjahre schätzen lernen.
Es gibt wenige Städte in Deutschland, deren Entwicklung so eng mit einem einzigen Unternehmen verbunden ist, wie die der Stadt Wolfsburg mit dem Volkswagen-Konzern. Gegründet 1938, als Stadt für die Produktion des KdF-Wagens, wächst die junge Stadt seitdem im Zyklus der Konjunktur der Autobauer. Ging es dem VW-Werk gut, schritt die Stadtentwicklung voran. Aus einem Zusammenschluss bestehender Dörfer gegründet, wurden nach und nach neue Siedlungsbereiche hinzugefügt. An ihnen lässt sich die deutsche Baugeschichte seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts fast wie in einem Freilichtmuseum besichtigen. Die Siedlungen der einzelnen Epochen liegen häufig noch recht unverändert in der Stadtlandschaft, mit fast baugleichen Typenhäusern an denen sich die Ideale der jeweiligen Zeit mit ihren Architektur- und Wohntrends ablesen lassen. Insbesondere starke Bevölkerungszuwächse von den 50ern bis in die 80er Jahre prägen das Bild der Stadt. Die einzelnen Wohnsiedlungen und auch frühere Dörfer liegen wie Inseln in der Stadtlandschaft, umgeben von großen Verkehrsadern, aber auch von viel Grün. So kann die Stadt mit mehreren schönen Seen, Natur- und Landschaftsschutzgebieten sowie Wäldern mitten in der Stadt aufwarten.
Mag diese Struktur auf den ersten Blick wenig großstädtisch wirken, bietet sie doch für die Bewohner*innen viel Lebensqualität und große Chancen für die zukünftige Entwicklung der Stadt als resiliente, klimaangepasste Stadt mit großzügigen Grünverbindungen. So wird auch in der aktuellen Stadtentwicklung an dieser Struktur festgehalten. Neben einzelnen Nachverdichtungsprojekten werden aktuell große neue Siedlungsgebiete, wie die Steimker Gärten auf einer Fläche von 22 ha mit ca. 1.800 Wohneinheiten, oder das auf sogar 150 ha geplante Gebiet Sonnenkamp mit ca. 3.000 Wohneinheiten erschlossen.
Ziel ist es, attraktiven Wohnraum für die vielen Pendler*innen und ihre Familien zu schaffen, die täglich aus dem Umland, aber auch aus den nahen Metropolen zur Arbeit nach Wolfsburg kommen. Die Stadt mit ihren rund 125.000 Einwohner*innen wächst werktags um fast 80.000 Einpendler*innen an. Die meisten von ihnen kommen mit dem Auto und tragen so zu einer erheblichen Verkehrsbelastung bei. In Zukunft sollen sie lieber vor Ort gemeinsam mit ihren Familien das Stadtleben bereichern.
Genauso wie der VW-Konzern aktuell seinen Platz in der Verkehrswende sucht, versucht auch die Stadt den Wandel: weg vom alles bestimmenden, individuellen Auto mit Verbrennungsmotor und Stellplatzbedarf, hin zu neuen, nachhaltigeren Mobilitätsformen. Eine „Alternative Grüne Route“ für Schnellbusse und Radfahrer*innen aus den neuen Siedlungsgebieten in die Innenstadt und zum Werk ist genauso in Planung wie ein gesamtstädtisches Radverkehrswegenetz mit Schnellwegen, Haupt- und Nebenstrecken.
Für den Fußgängerverkehr reserviert ist bisher die Porschestraße. Als klassische Fußgänger-Einkaufsstraße geplant, haben die Aufwertungsmaßnahmen der Vergangenheit wenig verfangen. Es scheint, als gingen die vielen wohlhabenden Wolfsburger*innen lieber in Hannover oder Berlin einkaufen oder sie finden sich im großen Outlet-Center am Bahnhof ein. Die aktuellen Entwicklungen in der Corona-Pandemie werden diesen Trend, wie in vielen Städten, noch verschärfen. Hier könnte die Anbindung an die Rad-Arbeitswege der „neuen“ Wolfsburger*innen zu einer Belebung führen.
Als „smart city“ Modellstadt mit einem großen Sinn für Digitalisierung und Innovation möchte sich die Stadt fit machen für zukünftige Herausforderungen. Ein prominenter Ansatzpunkt dafür ist die Masterplanung für die großen Parkplatzflächen an der Nordhoffachse, entlang der Bahntrasse und des Mittellandkanals. Neue Mobilitätskonzepte und alternative Parkplatzstandorte sollen in Zukunft Platz machen für Stadtentwicklung am prominenten Standort. Nicht zuletzt benötigt auch VW neue Büroflächen für Think-Tanks und Innovationsentwicklungen, um in der Mobilitätswende mithalten zu können.
Über einen Zeitraum von 20 bis 30 Jahren soll ein innerstädtisches Mischgebiet für Büros und Wohnen entstehen. Über diese Entwicklung an der wichtigsten Leerstelle der Stadt besteht die Chance, die aktuellen Strömungen einer nachhaltigen Stadtentwicklung aufzunehmen. Parallel zu früheren Entwicklungen in Wolfsburg kann hier nun ein beispielhaftes Quartier der 2020er Jahre entstehen. Stadtentwicklung mit dem richtigen Maß kann mehr Urbanität in die Innenstadt bringen, die Verbindung von Werk und Innenstadt stärken sowie einen vielfältigen Ort für Innovationen und Begegnungen hervorbringen.
Als Teil der Masterplanung für die Nordhoffachse wurden auch die bestehenden Freiräume der Wolfsburger Innenstadt neu entdeckt. Eingeklemmt zwischen Bahntrasse und Werk sind insbesondere die grünen Ufer des Mittellandkanals ein bisher nicht gehobener Schatz. Eine öffentlich zugängliche Erschließung dieser Flächen würde das beliebte grüne Freizeitgelände des Parks am Allersee im Westen mit bestehenden Grünbereichen und Wiesen im Osten verbinden. Gleichzeitig hätten die Uferbereiche selbst einen hohen Freizeitwert: Grüne Wasserlagen mit Blick aufs Werk, direkt in der Innenstadt! Eine Grünentwicklungsplanung für die Gesamtstadt könnte diese Gedanken aufnehmen und die bestehenden Werte weiter qualifizieren. Grüne Achsen zwischen den Siedlungsflächen, von den Außenbereichen bis in die Innenstadt, können als Mobilitätskorridore für die Verkehrswende ebenso an Bedeutung gewinnen, wie als Puffer und Rückzugsräume bei klimatischem Hitzestress und als Biotopverbundflächen für mehr Biodiversität in der Stadt. Nicht zuletzt das Stadtgrün wird in Zukunft bestimmen, in welcher Stadt wir leben wollen. Die Stadt Wolfsburg hat den Wert ihrer besonderen Baustruktur erkannt. Nun gilt es, auch den Wert der bestehenden Grünstrukturen weiter ins Bewusstsein zu rücken. Die Mobilitätswende bietet auch hierfür eine große Chance. Wird sie angepackt, eröffnen sich ganz neue, grüne Perspektiven für diese besondere, schöne Stadt am Werk.
Dr. Antje Backhaus
ist seit 2013 Mitinhaberin und Geschäftsführerin von gruppe F – Freiraum für alle GmbH in Berlin, wo sie zuvor mehrere Jahre als Mitarbeiterin tätig war. Sie studierte Landschaftsnutzung und Naturschutz an der HNE Eberswalde. Von 2008 bis 2018 war sie u. a. als Assistant Professor an der Universität Kopenhagen im Bereich Regenwasserbewirtschaftung und Klimaanpassung von Städten angestellt. Seit 2019 ist Antje Backhaus Mitglied im Gestaltungsbeirat der Stadt Wolfsburg. Im Jahr 2020 veröffentlichte sie außerdem das dänische Fachbuch „Regn med mere – Lokal håndtering af regn i byens landskab“ (Regenwasserbewirtschaftung in der urbanen Stadtlandschaft) beim Verlag Grønt Miljø.
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