
© Anders Indset
Die City scheint außer Kontrolle zu geraten. Wo sich „die Eliten“ den Ballungsgebieten zuwenden, zieht es die Menschen weg, wie z. B. in Los Angeles. In London und Lagos kämpfen Teile der Bevölkerung mit steigenden Immobilienpreisen und schieben die „Ärmeren“ aus den Innenstädten. Stockholm gilt als Pilotprojekt für globale Trends, San Francisco zeigt die Konsequenzen der Technologie und Shanghai ist nicht nur durch die geostrategische Lage relevant, sondern wird zum pulsierenden Mekka des chinesischen Aufstiegs. Einige Beobachtungen hier reichen, um daraus zu schließen, dass die Städte sterben werden und wir vor einer De-Urbanisierung stehen. Das sind genau jene Denkströme, die für die De-Globalisierung gelten.
Und doch bleibt uns eines erhalten: Der Schmelztiegel aller Ideen und sozialer Hotspot. Menschen wollen sich lieber in der Höhe stapeln, als Möglichkeiten für Wohlstand und Zusammenleben verpassen. Natürlich gibt es die Exoten und Ausgesorgten, die nach einem entspannten Leben auf dem Land streben. Aber rund um Ballungsgebiete sind Dichte und Nähe wichtiger als je zuvor, und das wird auch in Zukunft so bleiben. Mit dem Fahrrad muss es erreichbar sein. Womöglich werden finanzielle Prestigeobjekte und gläserne Bürotürme umgeschichtet. Politische, ökonomische und soziale Umwälzungen stehen bevor. Herzlich Willkommen in Urbanien.
Wie ein Schwamm ziehen Ballungsgebiete Menschen an, die sich nach Ideen und ko-kreativen Projekten sehnen. Technologie und Pandemie werden Metropolregionen wie z. B. New York nicht davon abhalten, Schmelztiegel und Zukunftsschmiede zu sein. Städte und Ballungsgebiete haben sogar eine eigene Dynamik entwickelt.
Die Welt bleibt urban, eine Verlangsamung wird eintreffen, und der Fokus auf Landleben und Entschleunigung wird ebenso ein Thema sein, aber die Marschroute bleibt klar. Wohnten Anfang des 20. Jahrhunderts fünf Prozent der Weltbevölkerung in Städten – bzw. Ballungsgebieten – so war der Tipping-Point in 2006/2007, wo bereits mehr als 50% der Weltbevölkerung in Städten lebten. Die Entwicklung zeigt, dass wir uns rasant in Richtung 75 % bewegen. Trotz möglicher Tempo-Wechsel – die sozialen Knotenpunkte werden die großen Metropolregionen bleiben. Daraus folgt eine Welt der Regionen, Ballungsgebiete oder Städte, die miteinander verbunden sind und nicht nur Daten und Informationen austauschen, sondern auch Werte und Ideen und damit verbundene Produkte und Dienstleistungen. Lokale Autoritäten rebellieren und kriegen mehr Macht, denn in ihrer Nähe haben sie die Unterstützung der Bürger. Rebellische Bürgermeister werden womöglich Städte oder Regionen dazu bringen, über Wege zu größtmöglicher Eigenständigkeit und Optimierung des Möglichkeitsraums nachzudenken. Und bereits jetzt ist eine Entkoppelung von alten Nationalstaat-Strukturen erkennbar. Kooperationen und eigene Handelsabkommen über Kontinente und Landesgrenzen hinweg stärken die Gebiete an sich. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass sich innerhalb der nächsten Jahre – sollten sich die Spaltung und die sozialen Strukturen in den USA nicht verbessern – die ersten Regionen mit einem zentralen Ballungsgebiet entkoppeln werden. Dabei geht es nicht um einen Neo-Separatismus, vielmehr erleben wir, basierend auf den technologisch befeuerten Opportunitäten, globale Vernetzungen lokal zu adaptieren, einen Perspektivwechsel. Die gegenwärtigen Entwicklungen korrigieren Märkte und Strukturen.
Was wir daraus schließen – ob es gut oder schlecht ist – es gibt trotz veränderter Lieferketten und moderner Technologie nicht wirklich Anzeichen dafür, dass wir uns auch in diesem Bereich von der Idee einer globalisierten Welt verabschieden werden. Po- litisch verlagert sich die Macht auf die Ballungsgebiete. Ein rebellischer Aufstand der Bürgermeister mit gefühlter, gestalterischer Freiheit durch Rückendeckung der lokalen Wähler, führt zu einer fragmentierten Struktur. Entkopplung von Nationalstaaten-Gedanken wird ersetzt durch lokale Identität und Zugehörigkeit. Patriotismus für Schwarz-Rot-Gold bei Olympia und Fußball-Weltmeisterschaften ist okay, Nationalismus macht aber keinen Sinn. So leben die Menschen wie Di-Viden. Regional verbunden, digital connecten. Soziales Grundeinkommen oder Legalisierung von Cannabis für die Stadt? Kein Problem, in Zukunft gestalten wir – die Bewohner – unsere Schmelztiegel und nicht ein orts- und inhaltsentrückter Staatsapparat.
In der lokalen Struktur erkennen wir, dass wir unsere individuelle Freiheit nur genießen können, wenn wir in das Allgemeinwohl einzahlen. In der pulsierenden Stadt erleben und spüren wir, dass wir nur Mensch sein können in Relation zu anderen Menschen. Wenn Bürotürme mit vergoldetem Aufzug für den ‘Siehste-den-Chef’ nicht mehr gefragt sind, entstehen womöglich neue Parks und Grünflächen, Orte echter Begegnungen und Inspiration. Der Begriff ‘Urbanität’ verliert seine Selbstverständlichkeit und wird zur Einladung, Vielfalt jeden Tag neu zu denken. So wird die Stadt oder der Ballungsraum zu einer selbstversorgungsfähigen Sinnstiftoase, in der die Menschen leben und Leben gestalten.
ANDERS INDSET
ist einer der weltweit führenden Wirtschaftsphilosophen und ein vertrauter Sparringspartner für internationale CEOs und politische Führungskräfte. Mit seinem Ansatz zur praktischen Philosophie ist er einer ihrer gefragtesten Impulsgeber. Der gebürtige Norweger mit Sitz in Frankfurt ist Gastdozent an führenden internationalen Business Schools und Founding Partner des Global Institute of Leadership and Technology. Der Ausbruch der Corona-Pandemie im Jahr 2020 brachte Anders’ beschriebene “wahre Wirkkräfte des Wandels” zum Vorschein und zeigt auf, warum seine Ansätze eines humanistischen Kapitalismus aktueller sind als je zuvor. Sein Buch “Quantenwirtschaft – Was kommt nach der Digitalisierung?” wurde in kürzester Zeit zum Spiegel-Bestseller. In diesem Frühjahr erscheint sein neues Buch „Das infizierte Denken“ bei Econ.
Schreibe einen Kommentar