
Projektskizze aus Sicht der Gaußstraße © agn Leusmann GmbH
Die Ziele des ursprünglichen Einkaufszentrums „Vivo“ waren groß: Als erstes deutsches Bio-Kaufhaus sollte es in die Geschichte eingehen und die Anlaufstellen des täglichen, nachhaltigen Bedarfs an einem Ort zusammenbringen. Als Resultat eines Wettbewerbs stellte das Team von me di um Architekten das Gebäude 2003 als vielschichtige und offene Struktur fertig. Da das Vorhaben ein Modellprojekt war, wurde die Möglichkeit der Umnutzung von Beginn an berücksichtigt – ein Weitblick, der sich nun auszahlt.
Im Jahr 2019 beschloss die Stadt Hamburg, das über 9.000 m² große „Vivo“ zu einer modernen und dringend benötigten fünfzügigen Stadtteilschule umzunutzen. Für diese Transformation steht das Planungsteam von agn Leusmann seit der Beauftragung 2022 in engem Austausch mit dem Landesbetrieb SBH | Schulbau Hamburg und der Gründungsschulleiterin Britta Heils, denn in dem Projekt ist sowohl eine hohe architektonische Qualität als auch ein sinnvolles pädagogisches Konzept gefordert. Der Ursprungsbau erfüllt dank kompakter, gläserner Bauweise, Regenwassersammlung, Betonspeicherdecken und trennbaren Materialien bereits die Standards für nachhaltiges, recyclingfähiges Bauen. An diese Grundidee möchte agn Leusmann mit dem Ziel des maximalen Bestandserhalts anknüpfen.

Eingangssituation im Bestand © agn Leusmann GmbH

Collage der zukünftigen Eingangssituation © agn Leusmann GmbH
Da das „Vivo“ vor 20 Jahren hochwertig und mit Zukunftsperspektive entwickelt wurde, ist die Bausubstanz heute in einem guten Zustand. Demzufolge sollen Abrisse möglichst vermieden und Vorhandenes weitestgehend erhalten sowie genutzt werden. Der größte Eingriff in den Bestand wird der Rückbau des Staffelgeschosses zugunsten eines Dachgartens mit alternativen Sportflächen sein – eine klassische Sporthalle soll es nicht geben. Andere notwendige Elemente werden additiv ausgeführt, wie etwa die zweiten Rettungswege. Die Nachnutzung der Materialien ist gemäß dem Urban-Mining-Prinzip geplant: So sollen beispielsweise die Trapezbleche aus dem Rückbau als Teil der schützenden Pergolen auf dem Dach wiederverwendet werden. Dieser Kreislaufgedanke soll auch an die Schüler:innen weitervermittelt werden; beispielsweise könnten Teile der Materialien auch im Werkunterricht eingebunden werden. Die Planung zielt darauf ab, einen innovativen und inspirierenden Bildungstreffpunkt mit flexiblen, vielseitigen Lernwelten zu schaffen, in denen sich die heranwachsenden Nutzer:innen aktiv einbringen können.

In Vogelperspektive wird die neue Dachlandschaft ersichtlich. © agn Leusmann GmbH
„Man spürt die siedlungssoziologische Idee hinter dem Bestand“, betont Michael Specht, Projektleiter bei agn Leusmann, während einer öffentlichen Podiumsdiskussion im Mai dieses Jahres. Daher soll die Schule nicht nur für die etwa 1.000 zukünftigen Schüler:innen von der 5. bis 13. Klasse geöffnet sein, sondern auch die Nachbarschaft adressieren. Es stellt sich die Frage, wie öffentlich Schule sein kann – eine umfassende Öffnung würde schließlich der geschützten Lernatmosphäre schaden. Die Architekt:innen von agn Leusmann lösen diesen Widerspruch mit der Ausgestaltung des Erdgeschosses als öffentliche Fläche. Hier wären z. B. eine kooperative Radwerkstatt, ein Café sowie partizipative Flächen denkbar. Auch die Öffnung im Zuge von Veranstaltungen sei eine Möglichkeit, so Christian Wieschemann, stellvertretender Projektleiter bei agn Leusmann. Grundsätzlich solle die Öffnung des Erdgeschosses nach dem Schaukasten-Prinzip funktionieren, ohne dass das Gebäude zwingend betreten werden muss.
In den Obergeschossen fokussiert das Raumprogramm hingegen ausschließlich den schulinternen Betrieb. Die Klassen sollen sich als Lerngruppen in die Lernbereiche und Werkstätten verteilen, welche ständig betreut werden und durch flexible Zonierungen auch konzentriertes Arbeiten ermöglichen.

Vorläufiger Grundriss des Erdgeschosses © agn Leusmann GmbH

Szenario 1 der Lernwelt © agn Leusmann GmbH

Szenario 2 der Lernwelt © agn Leusmann GmbH
Aktuell befindet sich das Vorhaben in der Entwurfsphase. Bereits 2025 soll der Bau beginnen und im Schuljahr 2027/28 erstmals die Klingel zur ersten Stunde läuten. Im Rahmen der Podiumsdiskussion äußerte sich auch Michael Ruffing, Partner im Büro me di um Architekten, positiv über die Entwicklungen des aus seiner Feder stammenden Kaufhauses. Trotz der anderen Nutzung sehe er das Projekt soziokulturell auf einer Linie mit der Ursprungsidee. Dem Mehrwert von Schulen in der Gesellschaft wird die Umnutzung des „Vivo“ mehr als gerecht. Auch wenn die Ausgangslage bei diesem Beispiel durch die architektonischen Grundbedingungen ausgesprochen gut war, kann der Konzeptansatz auch für andere vom Leerstand bedrohte Kaufhäuser eine Chance für Umnutzung statt Abbruch bieten. Bei klassischen Gebäuden dieser Typologie gebe es andere Hürden, so Wieschemann. Doch im Kern gehe es darum, die richtigen Konzepte zu finden, denn den Anspruch zur Umnutzung sollten in den heutigen Zeiten alle haben.

Projektskizze aus Sicht der Bahrenfelder Straße © agn Leusmann GmbH

Bestandssituation im Atrium © agn Leusmann GmbH

Collage der inneren Balkone im Atrium © agn Leusmann GmbH
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