ANNETTE KULENKAMPFF: DIE REVIDIERTE MODERNE

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Die Ideale der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus führten in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Fehlentwicklungen im Städtebau. Alexander Mitscherlich brachte dieses Problem bereits in den 1960er Jahren mit der Formel von der „Unwirtlichkeit der Städte“ auf den Punkt. Der Brutalismus dieser Jahre und die monotonen Hochhaussiedlungen der 1970er und 80er, bis hin zu den aktuellen Quartiersplanungen wie im Frankfurter Europaviertel, am Potsdamer Platz in Berlin oder anderen Neubaugebieten sollten spätestens jetzt für Architekten und Stadtplaner eine Zeit des Umdenkens bringen mit der klaren Erkenntnis: Wir brauchen menschlichere Städte. Aber wie sehen diese Städte aus und wie gelingt hier die erfolgreiche Planung und Realisierung?

Allein der Versuch, den Begriff Stadt zeitgemäß zu fassen, erweist sich als schwierig. Ebenso verhält es sich mit dem Schlagwort Urbanität. Was genau verstehen wir unter Stadt und was unter Urbanität? Warum erfahren wir den einen als einen urban städtischen und den anderen, obwohl ebenfalls Stadt, nicht als einen urbanen Raum? Der Zufall des Nebeneinanders vielfältiger Bauformen und Bilder aus einer langen Entstehungsgeschichte, wie sie uns alte europäische Städte heute bieten, lassen uns Rom, Paris, Madrid oder Berlin als urbane, städtische Räume erleben. Wohingegen sich mit dem Siedlungsbau der Moderne seit den 1920er Jahren und den 1933 in der Charta von Athen propagierten Thesen, die vielfach beim Wiederaufbau deutscher Städte nach dem Krieg in die Praxis umgesetzt wurden, kein urbanes Lebensgefühl einstellt. Die Auflösung des klassischen Urbanismus in Form funktionaler Trennung der Stadtquartiere und das erklärte Ziel einer autogerechten Stadt führte zu Trabantenstädten, Großraumsiedlungen und endlosen Gewerbegebieten. Es fehlten die Voraussetzungen für ein urbanes, städtisches Leben. Das Eigenheim am Stadtrand wurde zum Ideal. Seit den 1970er Jahren zog, wer es sich leisten konnte, in die begehrten Quartiere der Jahrhundertwende, die noch heute zu den beliebtesten Wohnvierteln in den Großstädten zählen.

Die Entstehung der Stadt steht in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung des Gemeinwesens, der Art und Weise wie die Bedürfnisse der Menschen, die sie nutzen und die in ihr leben, die Stadt verändern. Aus dem von einer Mauer umschlossenen Marktplatz, dem Kern und der Umgrenzung einer Stadt, die im Wesentlichen der Warenproduktion und dem Handel diente, ist ein komplexes Gebilde aus Angeboten für Wohnen, Arbeit, Kultur, Sport, Bildung, Freizeitgestaltung, Gesundheitsversorgung und menschliche Begegnungen geworden. Daneben stehen die gestiegenen individuellen Ansprüche der städtischen Bevölkerung:  großzügiges Wohnen mit viel Grün, bequeme und sichere Wege, Mobilität, nahe Einkaufsmöglichkeiten, schnelles Internet und eine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Dies alles funktioniert nur, wenn dem öffentlichen Raum, der allen gehört, der von allen genutzt wird und der das Bild der Stadt wesentlich prägt, wieder erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt und er bewusst gestaltet wird. Ein Mensch bewegt sich in einer Stadt mit seinen fünf Sinnen. Häuserwände, Schuppendächer, Straßenlampen, Fassaden, Mobiliar, Bäume, Licht, Menschen und all das andere umgeben ihn optisch wie akustisch, er riecht die Umgebung, er schmeckt und fühlt sie. Enttäuscht wird er, wenn seine suchenden Sinne nichts finden, wenn ihn schatten- und konturlose, unräumliche, gesichtslos glatte, immer gleiche Bauten umgeben. Dann empfindet er die Stadt als unwirtlich, unnahbar und hässlich. Es fehlen die Atmosphäre und die menschliche Dimension. Diese Stadt ist nicht schön. Mit dem Wissen der vergangenen Jahrhunderte und der Lehre von der Stadtbaukunst lassen sich die zum Teil vergessenen Voraussetzungen für eine schöne Stadt auch in der zeitgenössischen Architektur und in der Stadtplanung mit den heutigen individuellen Ansprüchen verbinden. Vieles von der Ästhetik bis zur Nachhaltigkeit, von der Ökonomie bis zur Ökologie lässt sich in modernen Stadtquartieren umsetzen, indem das vorhandene Wissen gelehrt und gelernt, genutzt, weiterentwickelt und an heutige Methoden und Standards angepasst wird. So können urbane Lebensbereiche entstehen, nach denen sich die Menschen sehnen, in denen sie sich wohl fühlen. Der einzige Grund, warum dies nicht geschieht, ist der Ideologie geschuldet, die die weiße, kubische Bauhausästhetik verkürzt gleichgesetzt mit „der Moderne“. Alles andere wird als traditionalistisch abgetan, wenn nicht gar als hinterwäldlerisch verunglimpft. Wobei die überwiegende Bautätigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts europaweit eine regional geprägte, weit vielfältigere Geschichte der Moderne erzählt. Wie Stadt konkret weiterentwickelt wird, hat entscheidenden Einfluss auf ein ausgeglichenes Miteinander in unserer demokratischen Gesellschaft. Dafür muss günstiger, guter Wohnraum geschaffen, Umwelt und Klima geschützt, sozialer Zusammenhalt gestärkt, Energieeffizienz gesteigert und funktionale Vielfalt gefördert werden. Für all diese Aufgaben bietet der funktional und sozial gemischte sowie städtebaulich kompakte Stadtteil die besten Voraussetzungen.

Nach jahrelanger Forschung und zahllosen Debatten arbeitet das Deutsche Institut für Stadtbaukunst nun daran, die gewonnenen Erkenntnisse in konkreten Modellprojekten umzusetzen und somit öffentlichen Bauherren wie auch privaten Investoren ein Beispiel für eine veränderte Stadtentwicklungspraxis zu geben. Dabei gilt es rechtliche Hindernisse zu überwinden, verfahrenstechnische Prozesse zu beschleunigen und endlich das Leitbild der Europäischen Stadt umzusetzen. Die Europäische Stadt garantiert eine nachhaltige und besonders anpassungsfähige Stadtplanung. Eine hohe bauliche Dichte erlaubt den Bewohnern ein selbstbestimmtes Verhältnis von Anonymität und sozialer Nähe. Energetisch optimiert verringert eine dichtere Bebauung als Stadt der kurzen Wege das Verkehrsaufkommen, verbraucht deutlich weniger Boden und nutzt die vorhandene Infrastruktur sinnvoll aus. Dauerhafte Bauten sorgen für Nachhaltigkeit. Dies setzt eine einfache Konstruktion und eine vielfältige Nutzungsvariabilität mit beständiger Primärstruktur und  Materialien ebenso wie eine qualitativ hochwertige Gestaltung voraus, damit zukünftige energetische Aufwendungen für Sanierung, Umbau und Abbruch möglichst gering gehalten werden. Die funktionale und die soziale Vielfalt sind weitere wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Stadt. Hervorstechendes Merkmal der Europäischen Stadt ist die Mischung unterschiedlicher Funktionen wie Wohnen, Arbeiten, Betreuen, Erholen, Einkaufen, Erziehen in enger räumlich-baulicher Nachbarschaft. In Gewerbegebieten sollten prinzipiell nur solche Nutzungen untergebracht werden, die stadtunverträglich sind. Die Europäische Stadt zeichnet sich durch eine besondere soziale Offenheit ihrer Bewohner aus. Sie zu stärken, ist Kernaufgabe einer urbanen Wohnungsbaupolitik. Soziale Mischung ist nicht allein durch öffentliche Förderung zu erreichen, sondern bedarf eigener Haustypologien, wie sie die Europäische Stadt hervorgebracht hat und wie sie vom Deutschen Institut für Stadtbaukunstin den letzten Jahren für die Bedürfnisse unserer Zeit weiterentwickelt wurden. Darüber hinaus ist ein interdisziplinärer Ansatz geboten. Städtebau, Verkehrs- und Grünflächenplanung müssen zusammen gedacht und geplant werden. Nur so können die komplexen gesellschaftlichen Anforderungen an die Stadt des 21. Jahrhunderts erfüllt werden.


ANNETTE KULENKAMPFF

gründete nach ihrem Studium der Kunstgeschichte an der Johann-Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main eine Galerie in Frankfurt und war Leiterin der Publikationsabteilung der Kunst- und Ausstellungshalle in Bonn. Bis 2013 folgte eine Tätigkeit als geschäftsführende Verlegerin des Hatte Cantz Verlags in Ostfildern. Anschließend war sie vier Jahre lang Geschäftsführerin der documenta und des Museum Fridericianum gGmbH in Kassel. Seit Juli 2018 ist sie Geschäftsführerin des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst.

 

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