FELIX THIELMANN UND MIRKO BASS: WANDEL AUF RÄDERN

© DB Regio AG

Der Medibus steht momentan nicht nur regelmäßig in den Schlagzeilen, sondern gewinnt Preise, darunter etwa den Deutschen Mobilitätspreis 2019. Was ist der Medibus und aus welchem Impuls heraus entstand er?

FT: Als Regionalverkehrsanbieter ist die DB Regio AG mit ihrem riesigen Busnetz unmittelbar vom demografischen Wandel betroffen: Die Menschen zieht es zunehmend in die Städte und diese platzen aus allen Nähten. Der ländliche Raum hingegen blutet spürbar aus. Diese Problematik hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Geschäftsgrundlage. Unser Interesse ist daher groß, es Menschen zu ermöglichen, weiterhin im ländlichen Raum zu wohnen. Dazu gehört es auch, die medizinische Versorgung zu sichern, denn nur dort, wo es ausreichend Ärzte gibt, kann man gut alt werden. Auf dem Land sieht dies momentan leider ganz anders aus – ein klassisches Henne-und-Ei-Problem: Ärzte lassen sich nicht auf dem Land nieder, weil es dort zu wenig Patienten gibt, um Praxen wirtschaftlich betreiben zu können. Doch wo es keine Ärzte gibt, fliehen die Menschen in die Städte. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, entwickelten wir den Medibus: die mobile, vollausgestattete Arztpraxis, die es Ärzten ermöglicht, an mehr als einem Ort praktizieren können.

Konnten Sie bei der Entwicklung des Prototypen auf bestehende Konzepte zurückgreifen?

FT: Unser erster Bus war ein Linienbus aus dem Raum Bielefeld, der bereits elf Jahre alt und über eine Mio. Kilometer gefahren war. Dieser Bus bildetet die Grundlage für unseren Prototypen der rollenden Arztpraxis. Nachdem wir den Bus in einer unserer Werkstätten entkernt hatten, begannen wir gemeinsam mit Ärzten, dem Gesundheitsamt, Architekten und dem Buswerkstattmeister, den Workflow in einer Arztpraxis modellhaft mit Pappkartons und Papierwänden durchzuspielen. Einen Präzedenzfall für unser Projekt gab es nicht. Zwar sind Katastrophenschutzfahrzeuge, Blutabnahmebusse und -trucks im Einsatz, niederflurige Busse mit niedriger psychischer und physischer Schwelle jedoch nicht.

Wie muss man sich den Medibus im täglichen Einsatz vorstellen?

FT: Im Rahmen seines aktuellen Einsatzes in Nordhessen fährt der Medibus mit einem festen Praxisteam fünf Orte an vier Wochentagen an. Das Team besteht aus einem Arzt, dem Busfahrer und einer Praxishilfe. Der Medibus versorgt pro Tag zwei Gemeinden für jeweils vier Stunden. Auf den Marktplätzen der Kommunen gibt es Medibus-Haltestellen mit Schildern und Fahrplänen sowie Standzeiten für den Medibus. Fährt der Medibus morgens auf den Marktplatz, warten meistens schon ein oder zwei Hände voll älterer Menschen auf den Bänken der Haltestelle. Neben der Möglichkeit, vor Ort ärztlich versorgt zu werden, ist der Medibus darüber hinaus für viele auch eine Möglichkeit der sozialen Zusammenkunft und ein Grund, die eigenen vier Wände zu verlassen.

Und wie kam es dann später zur Zusammenarbeit der DB Regio mit Cisco, dem amerikanischen Weltführer in der Telekommunikationsbranche?

MB: Ende 2015 nahmen wir wahr, dass es im Grunde keine Möglichkeit gab, Geflüchtete ausreichend gesundheitlich zu versorgen, geschweige denn überhaupt ihre Sprache zu sprechen. Infolgedessen bauten wir in Hamburg Schiffscontainer in Arztpraxen um inkl. Empfangs- und privateren Behandlungsräumen und brachten Ärzte in die Container. Wir vernetzten ein Videoendgerät in der Hamburger Erstaufnahme über Mobilfunk (LTE) und verbanden Patienten über einen Dienstleister per Knopfdruck mit 750 Dolmetschern und 50 Sprachen. Diese Container waren damals ein Riesenerfolg und brachten uns über einen gemeinsamen Kontakt mit der Berliner Charité zur Kooperation mit der Deutschen Bahn. Damals stand die Frage im Raum, ob diese Praxen auch mobilisierbar wären, ob also das Dolmetschen auch im Check-in- und im Behandlungsbereich möglich wäre. Dieser Aufgabe nahmen wir uns an und so kam die ganze Geschichte ins Rollen.

@ DB Regio AG

Wie reagierten Kommunen und Politik auf Ihr gemeinsames Projekt?

FT: Einige Bürgermeister waren anfangs skeptisch. Mittlerweile gehören gerade diese zu den größten Befürwortern des Medibus. In Nordhessen ging der Medibus Ende 2019 aus dem Pilotstatus in ein reguläres Projekt über. Wir sind sehr stolz, mit der Kassenärztlichen Vereinigung einen so mutigen wie zukunftsgewandten Partner gefunden zu haben. Mit dem Einsatz des Medibus hat die KV Hessen einen Paradigmenwechsel angestoßen, für den sie nicht nur Schulterklopfer geerntet hat.

MB: Die Bestätigung seitens der Politik war ebenfalls sehr groß. Anfang 2019 luden uns der Gesundheits- und der Verkehrsausschuss ins Paul-Löbe-Haus. Hier durften wir den Medibus mehr als 100 Menschen aus der Politik präsentieren. Parteiübergreifend – und darauf sind wir sehr stolz – waren alle Abgeordneten und Mitarbeiter vom Medibus begeistert. Daher fand er auch Einlass in das Terminservice- und Versorgungsgesetz, das Jens Spahn als Gesundheitsminister erarbeitete. Darin steht ganz ausdrücklich, dass Regionen, die medizinisch unterversorgt sind, durch telemedizinische oder mobile Arztpraxen zu versorgen sind. Auch hierauf sind wir sehr stolz, denn damit hat die Politik die rechtlichen Grundlagen für unser Projekt geschaffen.

Das Gesetz bezieht sich in besonderer Weise auch auf die Telemedizin, die sicherlich eine der interessantesten Schnittstellen Ihrer Zusammenarbeit darstellt.

FT: Patienten, die z. B. mit einem Hautleiden in den Medibus kommen, müssen nach einer ersten Einschätzung des Allgemeinmediziners zum Facharzt. An dieser Stelle sind Patienten also wieder auf sich allein gestellt, denn der Mangel an Fachärzten ist in ländlichen Regionen noch gravierender. Gemeinsam mit Cisco und dem Partner Videoklinik entstand die Idee, den Allgemeinmediziner mithilfe der Telemedizin in die Lage zu versetzen, sich Fachärzte live in den Medibus zu schalten. Auf diese Weise entwickeln beide Ärzte gemeinsam eine erste Anamnese. Der Patient erhält daraufhin direkt im Medibus sein Rezept und ist so besser behandelt worden als in jeder Großstadt. Für dieses Konzept ist der Medibus bestens ausgestattet. Darüber hinaus testen wir beispielsweise IBMs Watson zur dermatologischen Untersuchung. Watson greift auf eine riesige Datenbank pathologischer Melanom-Untersuchungen zurück und gleicht die Befunde in Sekundenschnelle ab. So können wir analysieren, ob es sich um ein malignes Melanom handelt. Die entsprechende Infrastruktur und Technologie steht bereit. Nun braucht es lediglich mutige Nutzer. Wir merken, dass an dieser Stelle bereits viel in Bewegung ist, denn eins ist klar: Alternativen gibt es nicht und Mediziner sind rar. Mithilfe von Telemedizin können Ärzte deutlich effizienter und lokal unabhängig arbeiten.

MB: Unser Ziel ist es, unser Ökosystem mit einer Vielzahl von Akteuren weiter auszubauen. Auf dieser Ebene der Komplexität und Vielseitigkeit kann niemand mehr allein arbeiten.

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Denken Sie, der Medibus wird die gewaltige Herausforderung der medizinischen Versorgung ländlicher Regionen künftig alleine lösen können?

FT: Nein, der Medibus kann definitiv nur ein Teil einer komplexen Gesamtlösung sein. Er ist ein sehr effizientes Instrument, mit relativ wenigen Medizinern einen großen ländlichen Raum zu versorgen. Das ändert jedoch grundsätzlich nichts am Ärztemangel. Wir brauchen also starke und mutige Partner, die bereit sind, Schieflagen anzuerkennen und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.

MB: In der Diskussion über Smart Cities dürfen wir es nicht versäumen, auch an der Attraktivierung der ländlichen Räume zu arbeiten. Für Cisco ist es daher höchst relevant herauszufinden, welche Rolle die Technologie im ländlichen Raum spielt. Was wir heute brauchen, sind digitale Macher, die sich aus ihrem normalen Umfeld herauswagen. Das ist das Gebot der Stunde. Wir müssen im Ökosystem die verschiedensten Akteure zusammenbringen, um Lösungen zu entwickeln und Deutschland nach vorne zu bringen. Wir sehen hier viele Menschen, die bereit sind etwas zu bewegen.

Wie geht es mit dem Medibus kurz- und mittelfristig weiter?

FT: Der Medibus besteht mittlerweile aus einer Flotte von sieben Fahrzeugen. Davon werden vier vom Robert-Koch-Institut eingesetzt, um in den nächsten zweieinhalb Jahren eine bundesweite Gesundheitsstudie durchzuführen. Dieses Projekt bedeutet für uns eine große Sichtbarkeit, die wir ausdrücklich begrüßen. Darüber hinaus sind unsere Ideen fast endlos: Medizahnbus, mobiles Rathaus, mobile Bank … Wir denken den Medibus ganzheitlich als Plattform und entwickeln daraus Modelle aller Art.


FELIX THIELMANN

studierte Hospitality Management in Bad Honnef und Melbourne. Nach einigen Jahren in der Geschäftsentwicklung der DB Regio AG in Frankfurt a.M. lebt und arbeitet er mit Frau und Tochter in Berlin. Felix Thielmann hat langjährige Erfahrung im regionalen ÖPNV und kennt die demografischen Probleme. Als Projektleiter begleitet er derzeit den DB Medibus vom Prototypen in den schnell wachsenden Markt und profitiert hierbei insbesondere von einem starken unternehmensübergreifenden Partnernetzwerk mit engagierten Mitstreitern.

MIRKO BASS

studierte Wirtschaftsinformatik und ist seit über 25 Jahren in der Hightech-Branche tätig. Seine berufliche Laufbahn startete er als CIO einer Bertelsmann Tochter in München. Anschließend leitete er 5 Jahre den Vertrieb eines überregionalen IT-Systemhauses und baute das SAP-Plattformgeschäft aus. 2001 wechselte Mirko Bass zum amerikanischen Technologieunternehmen Cisco Systems und ist bis heute in diversen Führungs- und strategischen Entwicklungsrollen für den Konzern tätig.

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