
© Stefan Hendricks
Nur ein kleiner Bruchteil der auf unserem blauen Planeten lebenden Menschen wird jemals in den Genuss kommen, das ewige Eis erleben zu dürfen. Dabei sind die Pole wohl eine der faszinierendsten Teile der Erde. Gleichzeitig stehen sie – mit ihren schmelzenden Polkappen, dem immer dünner werdenden Eis – geradezu symbolträchtig für den rasant voranschreitenden, globalen Klimawandel. Um weitere Antworten auf die Frage nach zukünftigen Klimaprozessen und Entscheidungsgrundlagen für klimapolitische Maßnahmen zu finden, wurde unter der Leitung des in Bremerhaven ansässigen Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) mit der MOSAiC-Expedition im September 2019 die bis dato größte Arktis-Forschungsexpedition aller Zeiten gestartet.

© Stefan Hendricks
Nach zehn Jahren der Vorbereitung startete das zentrale Expeditionsschiff, der deutsche Eisbrecher Polarstern, im Hafen des norwegischen Tromsø seine auf ein Jahr angesetzte Reise. Noch nie zuvor wurden Klimaprozesse der Zentralarktis während des Winters vermessen. Ursächlich hierfür ist, dass das arktische Meereis im Winter zu dick ist, um von Eisbrechern durchbrochen zu werden. Im Rahmen der MOSAiC-Expedition wird daher ein besonderes Vorgehen, das in ähnlicher Form bereits von 1893 bis 1896 durchgeführt wurde, angewendet: Der Eisbrecher Polarstern wird fest in das Meereis hineingefroren, um dieses als „sichere Unterkunft“ zu nutzen und bewegt sich einzig und allein mit der Eisdrift – also der dynamischen Bewegung des Meereises in eine Hauptrichtung. Vorbild für dieses Vorgehen war die Fram-Expedition von Fridtjof Nases, die vor gut 125 Jahren, damals noch mit einem hölzernen Forschungsschiff, stattfand.

© Marion Hoppmann
Zur Unterstützung und Versorgung wird die Polarstern von einer internationalen Flotte aus vier Eisbrechern (aus Russland, Schweden und China), Helikoptern und Flugzeugen versorgt. Nach ihrem Start am 20. September in Norwegen fuhr die Polarstern zunächst entlang der sibirischen Küste nach Osten und suchte sich anschließend einen Weg in das zentrale arktische Meereis. Um den Prozess des „Einfrierens“ zu beginnen, wurden die Maschinen des Eisbrechers Anfang Oktober schließlich in den Leerlauf versetzt. Während der Eisbrecher daraufhin in das Meereis eingefroren wurde, errichtete die Besatzung unmittelbar neben der Polarstern ein großes Forschungscamp auf dem Meereis. Des Weiteren wurden in einem Umkreis von 50 km Beobachtungsstationen auf dem Eis installiert, die sich ausschließlich aus autonomen, ferngesteuerten Instrumenten zusammensetzen, die mithilfe von Helikoptern regelmäßig von der Polarstern aus angesteuert werden können. Seither driftet der deutsche Eisbrecher mitsamt seiner Flotte und dem umliegenden Netzwerk an Forschungsstationen mit der natürlichen Eisdrift über den Nordpolbereich. Das Expeditionsteam besteht aus rund 600 internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, darunter rund 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 17 Nationen, die in unterschiedlichen Abschnitten der Expedition forschen. Darüber hinaus sind rund 82 Forschungsinstitute und Staatsunternehmen aus 20 Ländern an der Expedition beteiligt. Die Kosten von rund 140 Mio. Euro für diese bahnbrechende Expedition werden zur Hälfte vom Bundesforschungsministerium (BMBF) getragen. Die Bundesrepublik Deutschland leistet mit dieser Investition einen wesentlichen Beitrag, um den herausfordernden, drängenden Fragen des Klimawandels endlich ein Stück näher zu kommen und darauf aufbauend neue Lösungsvorschläge und Maßnahmen zu einer zukunftsweisenden Klimapolitik ableiten zu können. In der gesamtgesellschaftlichen Diskussion um den Klimaschutz sind es nämlich vor allem die Klimaprozesse, die sich in der Nähe des Nordpols – einer Region, die sich in den letzten Jahrzehnten so stark erwärmt hat wie keine andere Region der Erde – abspielen, die wichtige Antworten liefern können, bislang jedoch nicht erforscht wurden. Umso bedeutender werden die Erkenntnisse sein, die durch die MOSAiC-Expedition gesammelt werden – sie bilden das Puzzlestück, das bislang fehlte, um bessere Prognosen zum globalen Klimawandel zu erstellen. Denn so fern die Arktis dem ein oder anderen von uns erscheint, so unmittelbar ist sie doch im Alltag eines jeden von uns – wenn auch unbewusst – präsent: Jede Extremwetterlage, seien es zu trockene, heiße Sommer oder winterliche Ausbrüche arktischer Kaltluft, hängt letztendlich immer mit den Veränderungen zusammen, die sich in der Arktis abspielen.

© Esther Horvath
Unter extremen Bedingungen erforschen die Wissenschaftler auf der MOSAiC-Expedition nun seit Oktober 2019 die Atmosphäre, das Meereis, den Ozean, das Ökosystem und die Biogeochemie. Dabei werden komplexe Wolkenprozesse und Schneefall, Sonnen- und Wärmeeinstrahlung und kleinste Verwirbelungen untersucht. Aber auch Lufttemperaturen von bis zu minus 40 Grad Celsius und der darunter vergleichsweise warme Ozean, der nur durch eine dünne, rissige Eisschicht von der Atmosphäre getrennt wird. Wie taut dieses Eis und bestimmt es dabei die Energieflüsse zwischen Luft und Wasser? Welche Gase tauschen Meer mit Eis und Atmosphäre aus und welche Auswirkungen haben diese Gase? Und wie gelingt es arktischen Lebewesen, die extreme Kälte und zeitweise vollkommene Dunkelheit zu überstehen? Diesen und zahlreichen weiteren Fragen gehen die Wissenschaftler mit möglichst umfassenden und zeitlich konsistenten Messungen auf den Grund, in der Hoffnung die von unserer Gesellschaft so dringend benötigten Antworten liefern zu können.

© Stefan Hendricks
Für den ein oder anderen von uns ist es wohl kaum auszumalen, dieses Leben an Bord eines Eisbrechers. Monatelang tausende Kilometer weit weg von der Zivilisation, dem gewohnten Umfeld und menschenwürdigen Temperaturen. Für andere ist es eine Berufung unter extremen Bedingungen Tag und Nacht zu arbeiten. Dennoch muss natürlich auch diesen Menschen ein entsprechender Ausgleich im Forschungsalltag auf dem Eis zu Teil werden. So wurde eine „Logistik- und Freizeitzone“ auf dem Eis eingerichtet, in der etwaige Messungen keine Rolle spielen, sondern in erster Linie ein Beitrag zur Atmosphäre im Team geleistet werden soll. Wahlweise kann diese „Zone der Ruhe“ auch schlicht dem Betrachten von Polarlichtern oder des einzigartigen Sternenhimmels dienen.
Trotz zehnjähriger Vorbereitung war die Expedition auf eine Eventualität dann aber doch nicht eingestellt: Die Corona-Krise, die unsere globale Welt seit März 2020 vor völlig ungeahnte Herausforderungen stellt. Von ihr bleibt auch die Expedition im ewigen Eis nicht unbeeinflusst und so musste die Drift für drei Wochen unterbrochen werden, da der auf Mai verschobene Teamwechsel nur per Schiff und nicht per Flugzeug erfolgen durfte. Für dieses Szenario musste sich der Eisbrecher bis zur Eiskante an das offene Wasser begeben. Nach dem dort stattfindenden Teamwechsel und einem Lebensmittelnachschub wird die Polarstern zurück in ihre Eisscholle kehren und die Forschungsarbeiten werden fortgesetzt.
Im Spätsommer 2020 wird sich die Polarstern dann zwischen Grönland und Spitzbergen endgültig aus dem Meereis befreien und wieder Kurs auf den Heimathafen in Bremerhaven nehmen – wo sie im Oktober 2020 erwartet wird.
Anmerkung: Dieser Artikel erschien im Frühjahr 2020 in der metro.polis Bremerhaven. Die Zeitform wurde in der Einleitung dementsprechend angepasst, der eigentliche Artikel wurde jedoch ohne Anpassung der Zeitform übernommen.
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