CHINAS NAGELHÄUSER – ZEUGNIS DES WIDERSTANDS DER KLEINEN LEUTE

© REUTERS / Aly Song

Am Rande von Nanjing steht dieses verlassene Nagelhaus als letztes Zeugnis der Vergangenheit. © REUTERS / Aly Song

Landwirt Luo Baogen und seine Ehefrau hatten sich ihr Leben sicherlich anders vorgestellt. In der ostchinesischen Provinz Zhejiang stand einst ihr Zuhause, ein fünfstöckiges Haus, das sich weigerte einer breiten Ausfallstraße zum neuen Bahnhof von Wengling Platz zu machen – zu groß war die Heimatliebe der Baogens und zu gering die ihnen angebotene Entschädigung. Die Chinesen bauten die Straße kurzerhand drum herum. Aus Baogens Widerstand wurde eine Touristenattraktion – Kamerateams aus aller Welt dokumentierten seine stoische Geduld. Erst Ende 2012 ließen sich der Landwirt und seine Frau dann doch umstimmen und zogen aus. Kurz danach wurde das Haus abgerissen.

In einigen Nachbarschaften von Shanghai gehören Hochhäuser und Nagelhäuser zum Alltagsbild. © REUTERS / Aly Song

Die Baogens sind kein Einzelfall. In der Volksrepublik gibt es unzählige Beispiele sogenannter Nagelhäuser, d. h. solcher Gebäude, die – ähnlich wie hartnäckig im Holz feststeckende Nägel – neuen Bauprojekten im Weg stehen, weil ihre Anwohner nicht weichen wollen. Möglich ist dies, da das chinesische Gesetz keine Zwangsräumung vorsieht. Für das eigene Zuhause und eine höhere Entschädigung nehmen die Hausbesitzer einige Strapazen in Kauf: Nicht selten sind sie umgeben von ohrenbetäubendem Baulärm oder werden gänzlich von neuen Gebäudekomplexen zugebaut – David gegen Goliath. Dass Widerstand auch in einer der am schnellsten wachsenden Industrienationen nicht immer zwecklos ist, dokumentieren die fotografischen Beispiele. Egal ob in der Provinz oder in Megastädten wie Chongqing oder Shenzhen: Chinas Nagelhäuser sind gleichsam Zeugnis der Rebellion gegen renditegetriebene, dem Bauboom folgende Investorenprojekte sowie letzte Erinnerungsstücke an eine langsam verschwindende chinesische Baukultur. Doch auch wenn Betroffene ihren Fall öffentlich machen, meist die Sympathie von Millionen ihrer Landsleute gewinnen und sogar mancherorts ganze Bauvorhaben verhindern, stehen sie allein auf verlorenem Posten sobald die Bagger erst einmal rollen.

Mit dem Abriss der Häuser verschwinden nicht nur Gebäude, sondern auch Menschen, Lebensmittelpunkte und Erinnerungen. Geld regiert die Welt; erst recht die fernöstliche: Gewinnbringende Quadratmeter sind monetarisierbar, Heimatliebe leider nicht.

Gebauter Protest, dessen „Überleben“ in den meisten Fällen nur eine Frage der Zeit ist.© REUTERS / Paul Yeung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert