PROF. DR. WOLFGANG SONNE: MEHR STADT WAGEN

© Roland Baege

Wesensbestimmungen sind Reduktionen, Vereinfachungen, um der unüberschaubaren und unverständlichen Komplexität der Welt Herr zu werden. So wird auch die Stadt gerne, wenn unterschiedliche Disziplinen und Professionen ihr Wesen zu bestimmen suchen, meist auf einen Aspekt reduziert: Gesellschaftswissenschaftler sehen dann „die soziale Stadt“, Verkehrsplaner „die mobilitätsgerechte (früher: autogerechte) Stadt“, Umweltwissenschaftler „die ökologische Stadt“, Politiker „die demokratische Stadt“, Unternehmer und Ökonomen „die wirtschaftliche Stadt“, Architekten und Kunsthistoriker „die schöne Stadt“ usw. usf. Jeder definiert aus seinem Blickwinkel das Grundlegende und Wesentliche der Stadt in seinem Gebiet.

Doch genau darin liegt die Gefahr einer solchermaßen reduktionistischen Sicht auf das Städtische, die einen Aspekt für wesentlich erklärt und andere Aspekte für akzidentiell hält. Wer glaubte, mit einer autogerecht geplanten Straße würde auch schon eine gute Stadt entstehen, hat sich geirrt. Wer heute glaubt, mit sozialen oder ökonomischen Programmen allein würde schon eine schöne und lebenswerte Stadt entstehen, hat zu kurz gegriffen. Wer das Wesen der Stadt nur in einem Aspekt sieht, verfehlt ihr Wesen. Für die Stadt funktioniert das Basis-Überbau-Modell nicht, alle ihre Aspekte sind gleichermaßen wesentlich und irreduzibel: das Politische, das Ökonomische, das Ökologische, das Soziale, das Kulturelle und das Bauliche.

Gerade die aktuellen Krisen bergen die große Gefahr, mit Reduktionen auf das „Systemrelevante“ die Stadt nicht zu kurieren, sondern sie weiter zu gefährden. Wer aus Gründen des Infektionsschutzes eine Auflockerung der Städte fordert, setzt alle ihre Dichte erfordernden Austauschfunktionen aufs Spiel. Wer aus Gründen des Klimaschutzes nur noch Hitzeinseln vermeiden will, verliert alle anderen Aufgaben der Stadt aus dem Auge. Wer nur die Mobilität verbessert, tut nichts gegen die Wohnungsnot; wer nur Sozialprogramme auflegt, ignoriert die gestalterische Qualität der Stadt – und vice versa. Die Reihe ließe sich fortsetzen.

Was mögen sie nun sein, die systemrelevanten Essentials der Stadt, die wir bei aller Krisenhektik nicht aus den Augen verlieren dürfen, um nicht am Ende das zu verfehlen, was wir verbessern wollten: die Stadt?

Politisch: Städte sind Orte der demokratischen Selbstbestimmung und der zivilgesellschaftlichen Teilhabe.

Ökonomisch: Städte ermöglichen eine diversifizierte Wirtschaft und vielfältigen Handel.

Ökologisch: Städte müssen umweltverträglich, nachhaltig, klimaresilient und CO2-neutral sein.

Sozial: Städte sind sozial offen und integrativ für alle Migrationshintergründe, Altersgruppen, Einkommensverhältnisse etc.

Kulturell: Städte sind der Motor kultureller Entwicklungen und zivilisatorischer Verfeinerungen.

Baulich: Städte sind kompakte bauliche Gebilde mit einem feinmaschigen Wegenetz, vielfältig nutzbaren Häusern und schönen öffentlichen Räumen.

Was könnte die Besinnung auf diese Essentials für das Weiterbauen an unseren Städten bedeuten? Wenn wir tatsächlich die momentane Krise zur grundsätzlichen Reflexion über das Wesentliche nutzen wollen, sollten wir uns bei allen Planungsmaßnahmen fragen, ob sie eher das Städtische der Stadt verhindern oder befördern, ob sie eher antiurban oder prourban wirken.

Für das Baukonstruktive bedeutet dies, nicht länger auf unsolide, nicht haltbare Konstruktionsweisen wie WDVS und kurzfristige Amortisierungsimmobilien zu setzen, sondern langfristig haltbare und dauerhafte Materialien und Konstruktionen in langfristig nutzbaren und umnutzbaren Stadthaustypen zu verwenden. Dies ist ein ökologisches Gebot, da mit dauerhaften Stadthäusern Energieverbräuche von Umbau, Abriss und Neubau vermieden werden können. So wichtig auch das „cradle to cradle“-Prinzip für eine ökologische Ökonomie ist, für Stadthäuser ist es immer nur „second best“.

Für die Architektur bedeutet es, nicht länger mit minimalistischen Containerbauten oder marktschreierischen Egozentrikern den zivilisierten städtischen Zusammenhalt bzw. die anregende Anmutung des Stadtraums zu stören, sondern mit ansprechenden und reichhaltigen Stadthausfassaden einen schönen öffentlichen Raum für die ganze Gesellschaft zu schaffen. Dies muss der Anspruch einer jeden Baumaßnahme in der Stadt sein, ob öffentlich oder privat, bei Wohnbauten, Bürobauten und bei gemischt nutzbaren Stadthäusern.

Für den Städtebau bedeutet es, nicht länger antistädtische Konzepte wie den aufgelockerten Siedlungsbau, die autogerechte Stadt oder die Nutzungstrennung durch funktionale Zonierung zu verfolgen, sondern Stadtquartiere mit engmaschigen Wegenetzen für maximale Kommunikation und kompakten Bebauungen für effektive Raumnutzung und Nutzungsdichten anzulegen bzw. Bestehendes entsprechend umzuformen.

Und es bedeutet last but not least die Bedingungen des Bauens in der Stadt auf ihre Haltung zur Stadt hin zu befragen: wirken sie pro- oder antistädtisch? Wenn letzteres der Fall ist, sollten sie so verändert werden, dass sie das Städtische der Städte befördern. Antistädtisch ist beispielsweise eine Baunutzungsverordnung, die von funktionaler Zonierung ausgeht und funktionale Mischung – ein Wesenszug des Städtischen – nur als kompliziert geregelte Ausnahme zulässt. Antistädtisch sind Emissionsschutzverordnungen, die eine Nutzungsmischung in kompakten städtebaulichen Situationen verunmöglichen und damit – unfreiwillig – nicht nachhaltige Siedlungsstrukturen und Verkehre befördern. Antistädtisch sind Ausschreibungsbedingungen, die Großinvestoren bevorzugen und damit unstädtischen, nicht umnutzbaren Großstrukturen ohne Parzellenteilungen Vorschub leisten.

Mit der Besinnung auf die Essentials des Städtischen könnten wir vielleicht zum Ende der Krise mit Überzeugung sagen: „Wir wollen mehr Stadt wagen.“

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Prof. Dr. Wolfgang Sonne

ist Professor für Geschichte und Theorie der Architektur an der TU Dortmund, wissenschaftlicher Leiter des Baukunstarchivs NRW sowie stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst. Er studierte Kunstgeschichte und Archäologie in München, Paris und Berlin und promovierte an der ETH Zürich. Er lehrte u.a. an der ETH Zürich und der University of Strathclyde in Glasgow. Er publizierte u.a. das Buch Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts (2014), das 2018 den IPHS Book Prize for the most innovative book in planning history erhielt.

Dieser Beitrag erschien zuerst im polis Magazin „Essentials“.

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