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Das Comeback der Innenstädte
Die Zukunft liegt in den Städten. Schon heute lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in urbanen Zentren. Im Jahr 2050 werden es drei Viertel sein. Das gilt nicht nur für die asiatischen Boom-Metropolen. Auch in Europa nimmt der Urbanisierungsgrad stetig zu. In Deutschland liegt er aktuell bei 76 %. Von einem Sterben der Städte kann also keine Rede sein, auch wenn kleinere und mittelgroße Ortschaften mit brachliegenden Flächen zu kämpfen haben. Bei all dem darf man nicht vergessen: Städte sind nicht aus Beton, sondern aus Fleisch und Blut gemacht. Eine Stadt lebt, wenn sich Menschen in ihr begegnen können. Es ist nicht die Schönheit einer Innenstadt, die ihr Funktionieren ausmacht, sondern das soziale Design. Verführt es Menschen dazu, sich im öffentlichen Raum zu bewegen?
Es sind häufig die kleinen Dinge, die den Unterschied ausmachen. Ein schönes Beispiel liefert das US-Kreativbüro Sagmeister & Walsh aus New York. Es bekam den Auftrag, mit dem bescheidenen Budget von 5.000 Dollar eine verwahrloste Unterführung, die als Urinal missbraucht wurde, zu neuem Leben zu erwecken. Ihre Idee: eine großflächige Wandbemalung mit dem Schriftzug „YES“. Fortan wurde die Unterführung von jungen Menschen aufgesucht, um dort einen Heiratsantrag zu machen. „Mit 5.000 Dollar verwandelten wir eine Toilette in eine Kapelle“, so Sagmeister & Walsh. Wer die Innenstädte beleben will, muss vor allem die Attraktivität des sozialen Designs erhöhen. Das Verlangen ist da: Die junge Generation der Millennials und ihrer Nachfolger sehnt sich nach mehr Miteinander. Es gab einmal eine Zeit, in der Menschen in Gemeinschaften geboren wurden und ihre Individualität finden mussten. Heute werden Menschen als Individuen geboren und müssen ihre Gemeinschaften finden. Der Handel kann dabei helfen, dieses Verlangen zu stillen.
Die Phygitalisierung des Handels
Es ist jetzt sechs Jahre her, dass Oliver Samwer, Chef der Start-up-Schmiede Rocket Internet auf dem Pariser Konsumgüterforum sagte: „Geschäfte sind Mittelalter. Sie wurden nur gebaut, weil es kein Internet gab.“ Die Händler im Publikum bekamen noch einen heftigen Nachtritt: „Sie sind zu alt, um das zu verstehen.“ Heute können wir feststellen, dass Samwer falsch lag. Es werden immer noch neue Geschäfte eröffnet. Unter anderem vom Online-Versandhaus Zalando, das zum Imperium von Rocket Internet gehört. Natürlich verschwinden auch Läden – jene, die nicht mehr in die Zeit passen, sich nicht auf veränderte Kundenbedürfnisse einstellen. Genauso werden aber viele neue Läden eröffnet. Zuletzt erst hat Drogerie-Riese Rossmann angekündigt, mit 110 neuen Märkten in Deutschland zu expandieren.
Ohne Frage wächst der Online-Anteil am Handel rasant. Aber es sind auch die Online-Medien, die junge Kunden in die Läden locken. Die reale und die digitale Welt verschmelzen immer mehr. Wer die unterschiedlichen Kanäle geschickt miteinander verwebt, wächst in beiden Welten. Jeder Laden wird in Zukunft zum Onlineshop. Wenn ein Kleidungsstück oder ein Parfum gerade nicht verfügbar sind, ergibt es doch keinen Sinn, die Kundin auf nächste Woche zu vertrösten. Es wird zur Selbstverständlichkeit, das Produkt im Geschäft per Klick zu bestellen und nach Hause liefern zu lassen. Ebenso lässt sich der Laden als Lager nutzen, um Online-Bestellungen zusammenzustellen. Viele Kunden nutzen mittlerweile die Möglichkeit, ihre Online-Käufe im Laden abzuholen. Beim Modehändler Zara macht dies ein Drittel der Online-Käufer und zwei Drittel geben Retouren im Laden wieder zurück. Pablo Isla, der CEO von Inditex, wozu Zara gehört, sagte kürzlich im Interview: „Der Laden hilft Online, und Online hilft dem Laden.“
Ausblick: Inspiration pro Quadratmeter
Diese Entwicklungen bieten gerade für kleine, lokale Händler Chancen. Durch die Digitalisierung kann man heute auf kleinerem Raum viel mehr zeigen. Wenn im Laden online geordert und am selben Tag geliefert wird, reichen Musterteile aus. Nicht die Ware, sondern das Erlebnis steht im Vordergrund. Es geht nicht mehr um Umsatz, sondern um Inspiration pro Quadratmeter. Wir suchen künftig ein Geschäft wie ein Reiseziel auf. Um neue Welten zu erfahren. Um einzutauchen in Farben, Gerüche und Genüsse. Um Stadt zu erleben. Hierfür braucht es das kreative Zusammenspiel aller Akteure städtischer Gemeinschaft.
ANDREAS STEINLE
berät mit viel Herzblut und Leidenschaft Unternehmen in der Fragestellung, wie sie ihre Zukunftsfitness verbessern können. Ihm geht es um die praktische Umsetzung von Trends in Business-Innovationen. Das ist auch der Kern der 2014 von ihm gegründeten Zukunftsinstitut Workshop GmbH.
Als Innovationsberater wurde er 2016 in den internationalen Curiosity Council des Wissenschafts- und Technologiekonzerns Merck berufen. Sein besonderes Interesse gilt dem gesellschaftlichen Wandel und wie sich dieser in neuen Konsum- und Kommunikationstrends ausdrückt. Er ist Autor mehrerer Bücher und Studien sowie ein gefragter Redner auf Kongressen.
Seinen Abschluss als Diplom-Kommunikationswirt machte Andreas Steinle an der Hochschule der Künste Berlin, am Institut für Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation.
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