DAS SCHACHBRETT IM WANDEL DER ZEIT

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Als der griechische Städteplaner Hippodamos rund 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung die Städte Milet und Thurioi sowie den Hafen von Piräus anlegte, griff er auf ein orthogonales Straßensystem mit gleichmäßigen Parzellen zurück, das bereits hunderte Jahre zuvor im vorderen Orient und in Ägypten Verwendung gefunden hatte. Er schrieb seine Gedanken nieder und theoretisierte sein Vorgehen, sodass das Prinzip des orthogonalen Städtebaus nach Schachbrettmuster fortan den Namen „hippodamisches Schema“ trug. Schon bald nahm es eine wichtige Rol- le im genetischen Code der griechischen Polis ein: Der Gedanke der Orthogonalität bezieht sich auf die in der demokratischen Grundordnung der griechischen Antike verankerte Isonomia, der Gleichheit aller Bürger:innen vor dem Gesetz. Nicht explizit deshalb, sondern vor allem aus Gründen der Praktikabilität und Ordnung des Musters kam das Schachbrett noch hunderte Jahre später bei der europäischen Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents zum Einsatz.

Ein wesentliches Charakteristikum: Städten oder Stadtquartieren mit Quadratrastergrundriss liegt kein organischer, sondern ein durchgeplanter Entstehungsprozess auf dem „Reißbrett“ zugrunde. Form, Maßstab, Hierarchie der Straßennetze, Dichte der Gebäudeanordnung und die Verteilung von Freiflächen können frei nach zeitaktuellem Bedarf bestimmt werden. Zwischen in verschiedenen Epochen geplanten hippodamischen Städten sind daher klare Unterschiede erkennbar: Während die Verkehrswege antiker römischer Städte in ihrer Breite auf Fußverkehr ausgerichtet wurden, wie beispielsweise die historischen Kerne Kölns oder Triers, verläuft die Planung neuer schachbrettartiger Kommunen in den USA – wie dem kalifornischen Woodbury – mittlerweile entlang der Bedürfnisse des Verkehrssektors. Das Schachbrett wächst also mit seinen Aufgaben.

Großes Erweiterungspotenzial durch offene Struktur

Dass sich das Schema seit mehreren Jahrtausenden bewährt, liegt vor allem in einer Gegebenheit begründet: Sowohl die antiken römischen Städte als auch spätere Kolonien hatten gemein, dass sie in einem hohen Tempo errichtet wurden und ebenso schnell erweiterbar sein mussten. Los Angeles beispielsweise zählte im Jahr 1850, siebzig Jahre nach der Gründung, rund 1.600 Einwohner:innen. Fünfzig Jahre später waren es bereits über 100.000, wieder fünfzig Jahre später fast zwei Millionen. Ausgehend von der Plaza Vieja konnte das Schachbrett sukzessive erweitert und die Stadtstruktur beibehalten werden. Um den Hauptplatz herum siedelten sich schon zu Beginn die wichtigsten Funktionen an, sodass die alte Kernstadt bis heute das Zentrum darstellt – zumindest nominell. Die Straßenbreite steigt mit zunehmender Entfernung vom alten Kern.

Industrialisierung und Technologisierung leiteten über das 20. Jahrhundert hinweg langsam, aber stetig die Entzerrung und Dezentralisierung des urbanen Raums ein, indem die motorisierte Mobilität Einzug in immer mehr Haushalte erhielt. Die täglich zurückgelegten Wege wurden weiter, die Funktionen separierter. In Los Angeles schloss sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Automobil-Lobby zusammen, um das gesamte Straßenbahnsystem aufzukaufen und anschließend zu demontieren; an dessen Stelle entstand ein verzweigtes Autobahnnetz. Wenngleich die US-Metropole wohl einen Extremfall darstellt, ging der Trend in anderen Großstädten in dieselbe Richtung – sowohl in den USA als auch in Europa, Südamerika und Asien. Eine zunehmend kritische Betrachtung erwuchs in Deutschland erst Anfang der 1970er Jahre, in den USA noch weitaus später.

Verschiebung des Leitbildes: Nachhaltigkeit im Fokus

Ähnlich laut, wie der Ruf nach einer autogerechten Stadt in den Nachkriegsjahrzehnten war, sind im Zuge des stetig steigenden Umweltbewusstseins der modernen Gesellschaft nun die Stimmen derjenigen, die sich für eine menschengerechte Stadtentwicklung einsetzen. Der Rückbau autozentrierter Baustrukturen ist, im Gegensatz zu deren Errichtung, jedoch schwer zu bewerkstelligen – schließlich sind die Straßen bereits verbreitert, die Autobahnen bereits gebaut und die Fahrzeuge bereits angeschafft worden. Doch im gleichen Maße, in dem Um- und Ausbau Teile des Stadterneuerungsprozesses sind, ist dies laut Stadtplaner Bernd Streich auch die Funktionsumwidmung. Laut ihm ist diese unabdingbar, sobald bestehende Funktionszuweisungen erhebliche Mängel aufweisen. Schlechte Luftqualität, verstopfte Straßen und teils verheerende Unfallstatistiken könnten wohl als solche bezeichnet werden.

In einigen Städten auf dem Globus ist den jüngsten Verkehrsentwicklungen bereits mit verschiedensten Funktionsumwidmungen begegnet worden. Das Ziel: den innerstädtischen Automobilverkehr reduzieren und dadurch die Lebensqualität erhöhen. Eine Gemeinsamkeit, die viele dieser Städte vereint, ist ihr schach- brettartiger Grundriss – beispielsweise in Barcelona. Einige Teile des im 19. Jahrhundert von Ildefons Cerdà streng nach dem hippodamischen Schema entworfenen Stadtteils Eixample fungieren seit einigen Jahren als Reallabore für ein Konzept, das zukunftsweisend sein könnte: die als Superblocks bezeichneten, drei mal drei Wohnblocks großen Planquadrate, innerhalb derer nahezu jeder Durchgangsverkehr untersagt ist. Nach anfänglichen Protesten, vor allem vonseiten der Gewerbetreibenden in den jeweiligen Bereichen, wird die Neuerung mittlerweile größtenteils begeistert aufgenommen. Auf ehemaligen Kreuzungen stehen nun Picknicktische, die Zahl der Gastbetriebe stieg um 30 %. Der Verkehr auf umliegenden Straßen erhöhte sich – entgegen pes- simistischer Voraussagen – nicht. Das Schachbrettmuster leistet in diesem Kontext einen entscheidenden Beitrag: Dadurch, dass es zu nahezu jeder Straße mehrere gleichrangige Parallelstraßen gibt, gestaltet sich eine Verlagerung des Verkehrs weitaus einfacher als etwa in organisch gewachsenen Städten, die häufig über eine begrenzte Anzahl an Erschließungsachsen verfügen. Dort läuft der Verkehr häufig durch Nadelöhre, die zu sperren einen Verkehrskollaps nach sich zöge. Im hippodamischen Schema können Pilotprojekte wie Barcelonas Superblocks als Präzedenzfälle dienen: So kleinteilig, wie sie derzeit sind, müssen die Verkehrswege für Automobile nicht sein.

Superblocks als Inspiration

Entwicklungen wie diese sind in immer mehr Städten zu beobachten – unter anderem in der Quadratestadt Mannheim. Ab Sommer 2021 dürfen zentrale Verbindungen nahe der Einkaufs- und Ausgehmeilen nicht mehr befahren werden – vorerst für den Zeitraum von einem Jahr. Vor allem die Parallelstraße der Fußgängerzone, die am Tag etwa 10.000 Autos führt, soll da- durch entlastet werden. Ähnliches passiert in San Francisco: Die Market Street, sozusagen die Hauptader der Stadt, ist seit Januar 2020 auf einer Strecke von etwa zwei Meilen komplett dem Rad-, Fuß- und Nahverkehr vorbehalten. Einen Monat zuvor hatte Bürgermeister Breed bereits die Fertigstellung des Octavia „Open Street“ Project verkündet, in dessen Verlauf eine vielbefahrene Straße in einen „Shared Space“ verwandelt wurde. Das Resultat: Der Radverkehr verzeichnete einen Zuwachs von fast 40 %, die Staugefahr erhöhte sich nicht. Auch die australische Metropole Melbourne nahm sich die in Barcelona verbuchten Erfolge zum Vorbild und installierte ihre eigenen Superblocks im Hafengebiet, das dadurch von einem abgeschnittenen und sterilen Ort zu einer familienfreundlichen Nachbarschaft wurde. Die Stadtplanerin Kate Matthews ist sich sicher: Konzepte wie diese können auf verschiedenste Orte übertragen werden.

Das Beispiel der katalanischen Hauptstadt zeigt überdies, dass eine menschenzentrierte Stadtplanung auch ökonomische Vorteile mit sich bringt. Etwa 1,7 Milliarden Euro soll die Transformation existierender Blocks jährlich einbringen – überwiegend aufgrund steigender Lebenserwartungen sowie der Reduktion vorzeitiger Todesfälle um 20 % und genereller Krankheitsrisiken um 13 %. Dies hänge vor allem mit niedrigeren Schadstoffbelastungen und einer verringerten Unfallgefahr zusammen, betonen Wissenschaftler:innen im Rahmen der Studie „Salut als Carrers“, übersetzt „Gesundheit im urbanen Raum.“

Zu der Zeit, als Hippodamos von Milet seine Gedanken zum orthogonalen Städtebau niederschrieb, war an verstopfte Straßen und von Abgasen verschmutzte Luft noch nicht zu denken. Die daraus resultierenden Mobilitätseinschränkungen zogen, wie es alte Stadtkerne bis heute verraten, schon früh Urbanität und Zentralität nach sich, bis die zunehmende Mobilisierung das ursprüngliche Stadtverständnis konterkarierte. Barcelona, San Francisco, Melbourne und viele weitere Städte zeigen mit ihren Ansätzen, wie sich eine Abkehr vom autogerechten Schachbrett gestalten könnte. Eigenschaften, die einst zur Erhöhung des motorisierten Verkehrs beitrugen, vereinfachen nun den Aufbruch zu einer menschengerechten Stadt.

Es bleibt dabei: Das Schachbrett wächst mit seinen Aufgaben.

 

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