
© Miller Filme
Seit März 2020 ist es traurige Realität: Zahlreiche Veranstaltungen wurden abgesagt und Kultur findet höchstens noch virtuell auf Bildschirmen statt. Vor allem freischaffende Künstler:innen stehen vor neuen Herausforderungen, insbesondere vor einem kollektiven Verdienstausfall, den es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Auf der anderen Seite steht das Publikum: Für viele Menschen war der Besuch von Konzerten und anderen kulturellen Veranstaltungen, der von heute auf morgen weggebrochen ist, wichtiger Bestandteil des Lebens. Infolgedessen greifen viele Kulturschaffende auf digitale Methoden zurück: Kultur per Video-Stream. Ein gleichwertiger Ersatz ist dies jedoch nicht; mangelt es nicht nur an adäquater Video- und Tonqualität, sondern vor allem an der entsprechenden Gage.
Kann das einzigartige Erlebnis eines Live-Auftritts überhaupt unter solch erschwerten Bedingungen stattfinden? Marc Vogel und Katja Lachmann, beide freischaffende Künstler:innen aus Fürth, haben sich dieser Frage angenommen und das Format Kultur vor dem Fenster auf die Beine gestellt. Wenn Kulturorte geschlossen bleiben und Kulturinteressierte keine Möglichkeit mehr haben, diese Orte zu besuchen, kommt die Kultur eben nach Hause. Kurzum: Künstler:innen verlegen ihren Auftritt direkt vor das Fenster der Interessierten. Eine pragmatische und funktionierende Lösung in Zeiten von Corona.
Für die Auftritte gibt es spezielle „Spielregeln“, um das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten und somit weder Künstler:innen noch Publikum zu gefährden. Die sich ständig ändernden Rahmenbedingungen und die damit zusammenhängenden Regelungen seitens der Politik erfordern dabei eine wiederkehrende individuelle Anpassung der zu treffenden Hygienemaßnahmen und ein Höchstmaß an Flexibilität. So galt im Frühsommer 2020 beispielsweise die Regel, dass höchstens fünf Künstler:innen mit einem Abstand von mindestens zwei Metern nicht länger als 45 Minuten auftreten durften. Außerdem musste der Auftritt auf nicht-einsehbarem Privatgrund stattfinden, um zu vermeiden, dass durch spontanes Laufpublikum Menschenansammlungen entstehen.
Die Gage wird bei dem besonderen Projekt persönlich mit den Künstler:innen vereinbart, da z. B. eine Einzelperson oder eine sehr kleine Hausgemeinschaft weniger zahlen kann als eine größere Einrichtung. Um alle Beteiligten zu entlasten, fällt dabei keine Vermittlungsprovision an.

© Henrik Kaalund
Allein im Städtedreieck Nürnberg-Erlangen-Fürth, wo Kultur vor dem Fenster im Frühjahr startete, gab es von April bis Juni 2020 etwa 130 Auftritte. Im Sommer, als kleinere Feiern wieder erlaubt waren, kamen schließlich noch einige Veranstaltungen der Reihe Kultur im kleinen Kreis hinzu. Von Ende November bis Mitte Januar dieses Jahres waren es im genannten Gebiet bereits 150 Auftritte. Insgesamt haben sich mittlerweile mehr als 300 Kulturschaffende in Städten wie Augsburg, Landshut oder Halle (Saale) registriert – Tendenz steigend.
In Nürnberg, Fürth und Erlangen können sich soziale und gemeinnützige Einrichtungen sogar an ihre jeweiligen Kulturämter wenden, um finanzielle Unterstützung für die Gagen der Künstler:innen zu erhalten. In diesen Städten wurde extra der Fonds „kultur.sozial“ eingerichtet, um kulturelle Teilhabe zu ermöglichen.
Und auch wenn diese Auftritte nicht genügen, um die enormen finanziellen Verluste der Kulturschaffenden zu kompensieren, geben sie wenigstens Hoffnung und helfen möglicherweise dem/der einen oder anderen, sich in dieser Zeit über Wasser zu halten. Auch in Zukunft, wenn die Darbietungen hoffentlich wieder in einem „normalen“ Rahmen stattfinden können, soll Kultur vor dem Fenster als neues Veranstaltungsformat bestehen bleiben. Besonders für ältere oder in ihrer Bewegung eingeschränkte Mitmenschen hat es sich als ein integratives Format bewährt, das allen Menschen die Teilhabe am kulturellen Leben ermöglicht. Zudem kann über das Internetportal Kontakt zu den Künstler:innen aufgenommen werden. Auch das soll zukünftig so bleiben.
Initiator Marc Vogel ist zuversichtlich: „Mit dem einsetzenden Frühling gehen wir davon aus, dass wieder viele Buchungen eintreffen. Selbst wenn die dritte Welle kommen sollte – wir sind bereit.“ Die vergangenen Monate haben gezeigt: Ein buntes, kulturelles Treiben ist nicht nur essenziell für unsere lebendige Gesellschaft, sondern zugleich Nahrung für Herz und Seele – und damit systemrelevant auf eine andere Art und Weise.
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