
© Tanja Lamers
Hier in Essen heißt es, die Offenheit Fremden gegenüber käme aus der Tradition des Bergbaus. Unter Tage spielten äußere Merkmale, Alter und Herkunft eben keine Rolle, nur der Zusammenhalt zählte. Und auch wenn ich nicht glaube, dass allein die Tatsache, dass man in Essen lebt, die Menschen zu besseren Menschen macht, kommen mir gelegentlich Zweifel, ob es vielleicht doch so ist.
Was auf der einen Seite ihre historische Identität ist – der Bergbau und die Stahlverarbeitung, die Essen als Pulsschlagader des westlichen Industriebezirks über Generationen geprägt haben –, ist auf der anderen Seite manchmal ihr Manko. Der Sitz der früheren Montanindustrie haftet am Image des Ruhrgebiets wie ehemals der Kohlenstaub auf den Gesichtern der Kumpel. Dabei ist die Stadt längst so viel mehr: Europäische Kulturhauptstadt 2010, Grüne Hauptstadt Europas 2017, Universitätsstadt und Zukunftsstandort. Hier hat in den letzten Jahrzehnten eine Transformation stattgefunden, die ihresgleichen sucht. Essen ist im wahrsten Sinne des Wortes bodenständig, aber dort, wo etwas weicht, entsteht Platz für Neues. Diese Herausforderung hat Essen als Chance begriffen – ohne seine Geschichte zu leugnen, ehrlich und offen eben, aber mit Blick nach vorne. Auf dem Areal der ehemaligen „Krupp-Stadt“ ist das Univiertel entstanden und die früheren Industriebauten beherbergen heute Kulturinstitutionen und Start-up-Unternehmen. Die bestimmenden Farben des Stadtbilds sind nicht mehr schwarz und grau, sondern grün und blau: vom Naherholungsgebiet rund um den Baldeneysee, der „kleinen Toskana“ genannten Landschaft im Süden der Stadt, über die unter Denkmalschutz stehende Gartenstadt Margarethenhöhe, die neue grüne mitte Essen auf dem ehemaligen Güterbahnhof im Zentrum bis zu den renaturierten Zechen, Halden sowie der Emscher im Norden der Stadt. Und nicht zuletzt entwickelt sich Essen zum Standort der Wasserstoffproduktion und nachhaltiger Energieerzeugung.
Und die Kultur? Was kann sie zur Stadtentwicklung beitragen? Mehr als man denkt. Karl Ernst Osthaus, der Gründer des Museum Folkwang, suchte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach der engen Verknüpfung von Kunst, Leben und Stadt. Er war der festen Überzeugung, dass kulturelle Bildung zur Gestaltung eines besseren Lebens beitragen würden. „Wandel durch Kultur, Kultur durch Wandel“ war sein Leitspruch. Nach seinem Tod erwarb der Folkwang-Museumsverein seine Kunstsammlung und überführte sie 1922 mit den Namensrechten von Hagen nach Essen. Der Name „Folkwang“ geht übrigens zurück auf die „Halle des Volkes“ der Liebes- und Glücksgöttin Freya aus der nordischen Mythologie. Und apropos starke Frauen: Auch die Stadtgründung Essens geht auf starke Frauen zurück. Im Jahr 845 als Frauenstift gegründet, führten Äbtissinnen über mehrere Jahrhunderte die Geschicke des Stifts und der heranwachsenden Stadt.
Mit dem Begriff „Folkwang“ verbindet sich in unserer Stadt nicht nur der Museumsverein und das Museum mit seinen herausragenden Beständen und international beachteten Ausstellungen, sondern auch die Folkwang Universität der Künste und die gleichnamige Musikschule, das Tanzstudio, das Kammerorchester und einer der bundesweit mitgliederstärksten Kunstvereine: der Kunstring Folkwang.
Dabei steht der Folkwang-Gedanke seit jeher für eine universelle Idee von kultureller Teilhabe. Der freie Eintritt in die hochkarätige Sammlung für alle ist Ausdruck dieser Überzeugung und hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass das Folkwang 2019 als „Museum des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Dazu gesellen sich hier in Essen spektakuläre Kulturbauten wie das Aalto-Theater als Sitz der Oper, das Ruhr Museum, das Red Dot Design Museum und das SANAA-Gebäude auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein, die Alte Synagoge Essen und die Villa Hügel – ehemaliger Sitz der Familie Krupp und heute Museum und Veranstaltungsort.
Doch wie sieht es 2021 mit der gesamtgesellschaftlichen Teilhabe an der Kultur aus? Nehmen die Künste selbst noch teil an der Diskussion um die zentralen gesellschaftlichen Fragen nach Integration, kultureller Vielfalt, Nachhaltigkeit, Globalisierung, Digitalität, urbanem Leben und Stadtentwicklung? Können wir erwarten, dass die Menschen zu uns ins Museum kommen, um Antworten auf diese Fragen zu finden, oder müssen wir nicht vielmehr mit dem Museum auf die Menschen zugehen, dorthin, wo sich die Fragen im unmittelbaren Lebensumfeld stellen? All dies ist für uns Anlass, im kommenden Jahr das 100. Jubiläum des Museum Folkwang in Essen nicht nur mit zwei großen Ausstellungen zum (Post-)Impressionismus und Expressionismus zu feiern, sondern auch mit dem Projekt Folkwang und die Stadt aus dem Museum heraus, in die Stadt hinein zu wirken. Lassen Sie sich überraschen. Genauso wie von den zahlreichen Beiträgen in diesem Magazin, das Ihnen unsere Stadt ein Stück näherbringt. Für alle Essen-Kenner:innen wird es viele spannende Informationen über neue und neueste Entwicklungen in und aus Essen enthalten. Ach, Sie kennen Essen noch gar nicht? Macht nichts, dann kennen wir uns eben jetzt!
PROF. PETER GORSCHLÜTER
zählt zu den jüngsten Museumsdirektoren in Deutschland. Nach beruflichen Stationen in Düsseldorf, Liverpool und Frankfurt am Main leitet der studierte Kunstwissenschaftler das Museum Folkwang seit Sommer 2018. Gemeinsam mit der Dortmunderin Regina Selter ist er Sprecher der RuhrKunstMuseen – einem Netzwerk von 21 Kunstmuseen in der Region. Peter Gorschlüter ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern auf der Margarethenhöhe in Essen.
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