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Wie ist die Immobilienbranche in Sachen Digitalisierung aufgestellt? Wie offen ist sie gegenüber dieser Entwicklung?
Wir sehen den PropTech-Begriff seit 2015 in der Branche, seitdem beschäftigt sich die Industrie mit diesen neuen digitalen Ansätzen. Es wurde viel getestet, viele Erfahrungen gesammelt mit durchaus neuen Themen und es kam zu diversen Pilotversuchen. Anfangs war die Zahl der Anbieter der digitalen Technologien auch noch überschaubar, mittlerweile ist sie aber explodiert.
Von wie vielen Anbietern können wir denn ungefähr ausgehen?
In Europa gibt es mittlerweile über 3.000 PropTech-Unternehmen. Dazu kommen noch die etablierten Anbieter, die immer schon Software für die Immobilienbranche entwickelt haben, etwa ERP-Anbieter oder Unternehmen aus der Gebäudetechnik. Insgesamt müssen wir demnach eher von 6.000 Anbietern ausgehen. Man kann also guten Gewissens sagen, dass es kein Problem mehr ist, Lösungen für eine bestimmte Herausforderung zu finden.
Mit solchen Zahlen sollte man meinen, dass die Implementierung digitaler Technologien für Immobilienunternehmen heute eine Selbstverständlichkeit ist. Ist das so?
Wie immer läuft die Entwicklung nicht bei allen parallel ab; einige preschen vor, während andere sich noch gar nicht in diese Richtung bewegen. Es ist heute aber sicherlich so, dass sich die Mehrheit der Immobilienunternehmen mit den Potenzialen digitaler Technologien auseinandersetzt und eine Reihe von Lösungen auch nutzbringend einsetzt. Aber das Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft, insbesondere wenn es darum geht, gut funktionierende einzelne Lösungen zu einer nahtlosen Plattform zu verknüpfen. Ich benutze dafür gerne Legosteine als Bild: Ein Legostein allein ist ebenso wenig ein tolles Spielzeug wie zu viele Steine, die unsortiert nebeneinander liegen. Es wird erst etwas Tolles daraus, wenn man sie verbinden kann. Die einzelnen Lösungen sind gut, aber zusammen werden sie noch viel besser. Auf diese Weise kann ein enormer Mehrwert geschaffen werden.
In welchen funktionalen Bereichen ist es sinnvoll, die Angebote derart „zusammenzubauen“?
In unseren Augen sind es sechs Bereiche, die immer auf “Interoperabilität” untersucht werden sollten: Gebäudetechnik und Energie, was allein wegen der ESG-Themen heute essentiell wichtig ist, im Bestand wie im Neubau. Das nächste sind die Management- und Verwaltungssysteme. Immer wichtiger werden zudem Mobilitätslösungen, ob das nun die Visualisierung des öffentlichen Verkehrs in der Umgebung oder Sharing-Angebote für Fahrzeuge sind. In diese Richtung gehen auch die Technologien, die andere Ressourcen oder Dienstleistungen für viele nutzbar machen, wenn es etwa Gemeinschaftsräume wie Dachterrassen oder Gästezimmer gibt. Dazu kommen Logistik- und Versorgungsthemen, mit denen die Menschen z. B. ihre Paketlogistik erledigen oder sich einen Überblick über das Verpflegungsangebot verschaffen können. Und schließlich die etwas abstrakteren Themen der Kommunikation und Identität: Viele Gebäude oder Areale werden heute mit einer eigenen Marke ausgerüstet, die als Grundlage für eine Community dient. Wenn wir uns dazu bspw. das Konzept der 15-Minuten-Stadt vor Augen führen, ist die Idee, dort in einem Mikrokosmos alles zur Verfügung zu stellen, was man zum täglichen Leben braucht, absolut einleuchtend. An solchen Orten ist eine integrierte Kommunikations- und Dienstleistungsinfrastruktur unabdinglich

Orchestrierung in der Praxis: Das komplexe Zusammenspiel unterschiedlicher digitaler Lösungen. © allthings
Bei der Bandbreite des Spektrums der Angebote ist es aber doch so, dass hier immer der Betrieb von Immobilien im Mittelpunkt steht.
Genau, diese sechs Gebiete fokussieren einen maximal effizienten und nachhaltigen Betrieb von Immobilien. Beim Neubau werden allerdings viele Entscheidungen, die sich auf den Betrieb auswirken, schon viel früher, nämlich bei der Planung und der Ausschreibung getroffen. Deswegen empfehlen wir, bereits in der Planungsphase die digitalen Möglichkeiten für den Betrieb mitzudenken, was natürlich auch mit Blick auf eine möglichst geschlossene Kreislaufwirtschaft sinnvoll ist. Die kann nämlich nur funktionieren, wenn das Projekt als Entität von der Planung über den Betrieb bis zum Rückbau verstanden wird. Die Immobilienwirtschaft ist klassischerweise mit harten Brüchen zwischen den einzelnen Phasen aufgestellt: Eine Partei plant, eine andere führt aus, eine dritte betreibt und vom Rückbau wollen wir gar nicht erst sprechen. Wir sind aber überzeugt, dass man sowohl Gebäude als auch Portfolien über den gesamten Lebenszyklus verstehen muss, um sie in der Betriebszeit maximal effizient zu betreiben.
Ihr seid an Projekten in ganz Europa beteiligt. Seht ihr in eurer Arbeit Unterschiede, was die Offenheit der Digitalisierung gegenüber angeht?
Da stellen wir durchaus Unterschiede fest. Es fängt schon damit an, dass die Branche teilweise anders organisiert ist. In Deutschland und Frankreich gibt es beispielsweise eine viel höhere Exposition in kommunalem Wohnungsbau oder Genossenschaften im Vergleich zur Schweiz. Die ist im Bereich Wohnen vor allem von privaten Investoren geprägt. Weil kommunale Wohnungsunternehmen oft integrierte Unternehmen sind, also entwickeln, besitzen und verwalten, hat das natürlich Konsequenzen. Wir stellen aber auch fest, dass die Experimentierfreudigkeit durchaus unterschiedlich ausgeprägt ist. Länder wie die Niederlande sind bei der Digitalisierung schneller unterwegs als beispielsweise Deutschland. Deutschland dagegen ist formal sehr viel präziser. Wenn man in der deutschen DSGVO firm ist, dann ist man das auch im Rest Europas. Auch bei den Lebenszyklusphasen wird in manchen Ländern schon verstärkt in Richtung Kreislauf gedacht, während andere noch strikt trennen. Es ist spannend zu sehen, wie unterschiedlich die Perzeption ein und derselben Lösung manchmal ist.
Lass uns zum Schluss einen Blick in die Zukunft werfen. Ihr seht „Open Real Estate“ am Horizont, parallel zum Open Banking. Welche Entwicklungen und vor allem welche Möglichkeiten seht ihr hier?
Wir sind davon überzeugt, dass wir uns in dieser Branche am Anfang einer neuen Phase in Sachen Digitalisierung befinden. Es verbreitet sich das Verständnis, dass verschiedene Softwarekomponenten miteinander kombiniert werden müssen, um wirklich Nutzen zu schaffen. Die Potenziale der Digitalisierung lassen sich nur sehr beschränkt heben, wenn wir weiter einzelne Silo-Lösungen nebeneinanderstellen. Die wichtigste Anforderung an jede einzelne Lösung ist die, dass sie mit geeigneten Konnektoren gut und einfach mit anderen zu verbinden ist – Stichwort Legosteine, von denen wir vorhin gesprochen haben. Im Banking ist das schon früher geschehen. Dort ist es in Bereichen wie Payment eine Selbstverständlichkeit und teilweise sogar gesetzlich vorgeschrieben, einfache, standardisierte Schnittstellen zur Verfügung zu stellen. Man stelle sich vor, beim Bezahlen hätte jede Bank eigene Ansätze und eigene Schnittstellen! Ein anderes Beispiel: Kundinnen und Kunden sind daran interessiert, einen Überblick über ihre Finanzlage zu haben, und zwar in Form einer Gesamtübersicht, auch wenn sie Konten bei drei verschiedenen Banken haben. Das ist nur möglich, wenn die unterschiedlichen Daten einfach automatisch über viele Unternehmen konsolidiert werden können. Das ist das, was letztlich im weiteren Kontext unter Open Banking verstanden wird. Banken müssen also ihr klassisches Geschäftsmodell aufgrund solcher Entwicklungen überdenken, effizienter gestalten und anders ausrichten. Sie können es sich einfach nicht mehr erlauben, weiter in einem traditionell geschlossenen System zu arbeiten. Die Strukturen müssen für Daten durchgängig sein, und das hat mit Standardisierung an den Rändern der Systeme zu tun. Und genau das gilt in unseren Augen ganz klar auch für die Immobilienindustrie.
Vielen Dank für den Einblick!
STEFAN ZANETTI
ist eine der prägenden Gründerfiguren der PropTech-Szene in Europa. Im Jahr 2013 gründete er Allthings, sein drittes ETH-Spin-off nach synesix und careware. Mit Allthings, der inzwischen führenden Kommunikations- und Integrationsplattform für die Immobilienwirtschaft, kombinierte er seine Begeisterung für Kundeninteraktion, Risiko- und Nachhaltigkeitsmanagement mit seiner Leidenschaft für neue Technologien und Software.
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