
Dr. Tina Ines Schmidt // © BRAHMS NEBEL & KOLLEGEN
Was war eigentlich passiert?
Der Berliner Verkehrssenat verfolgt das Ziel, den ca. 500 Meter langen Teilabschnitt der Friedrichstraße in Berlin Mitte zwischen Französischer Straße und Leipziger Straße als „Flaniermeile“ für Fuß- und Radverkehr zu etablieren. Zur Umsetzung dieses Konzepts hat der Berliner Verkehrssenat mehrere, teilweise parallele Verwaltungsmaßnahmen vorgenommen, die es auseinanderzuhalten gilt:
Kernmaßnahme ist die Absicht des Senats, besagten Teilabschnitt der Friedrichstraße dauerhaft für den Autoverkehr zu sperren. Das erfolgt über das Verfahren der sog. Teileinziehung. Das ist notwendig, weil die Friedrichstraße – wie in der Regel jede Straße – für den öffentlichen Straßenverkehr gewidmet ist. Eine „Widmung“ ist ein streng formalisierter, auf eine konkrete Straße bezogener Rechtsakt. Er wird auf Grundlage des Straßenrechts erlassen, konkret hier auf Grundlage des Berliner Straßengesetzes (BerlStrG).
Eine Widmung bestimmt rechtlich den konkreten Rahmen der Straßennutzung. Umfasst dieser Rahmen – wie bei der Friedrichstraße – die Nutzung als sog. öffentlichen Verkehrsraum, so schließt die zulässige Nutzung grundsätzlich den motorisierten Fahrzeugverkehr ein. Mit dem Verfahren einer Teileinziehung kann die Widmung einer Straße nachträglich auf bestimmte Nutzungen begrenzt werden, bspw. für die Einrichtung einer Fußgängerzone. Auch die Teileinziehung ist eine Maßnahme des Straßenrechts, in Berlin ist sie durch § 4 BerlStrG geregelt.
In unserem Fall hat der Verkehrssenat im Oktober 2021 beim zuständigen Bezirksamt Mitte den Antrag auf Teileinziehung des Abschnitts der Friedrichstraße für den motorisierten Verkehr gestellt. Ursprünglich sollte das Verfahren im Frühjahr oder spätestens Sommer 2022 abgeschlossen sein – es verzögerte sich jedoch. Damit nahm die Geschichte ihren Lauf.
Dem Antrag auf Teileinziehung voraus ging eine Sperrung der Friedrichstraße von August 2020 bis Oktober 2021. Diese wurde formal als straßenverkehrsrechtliche Maßnahme ausgeführt, also auf ein anderes Rechtssystem gestützt als die Verfahren der Widmung und der Teileinziehung. Konkret beruhte die Sperrung in der genannten Zeit auf § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6, 2. Var. Straßenverkehrsordnung (StVO). Danach kann die zuständige Behörde die Nutzung von Straßen verbieten, beschränken oder den Verkehr umleiten, um geplante verkehrssichernde oder verkehrsregelnde Maßnahme zu erproben – d. h. um Verkehrsversuche durchzuführen. Derartige Verkehrsversuche finden seit einiger Zeit sowohl in Berlin als auch in zahlreichen anderen Städten im Zuge von Bestrebungen zur Mobilitätswende verstärkt statt.
Nach dem Ende des Verkehrsversuchs im Oktober 2021 stand der Berliner Verkehrssenat vor einem Dilemma. Maßnahmen zur Durchführung von Verkehrsversuchen dürfen nur über einen bestimmten Zeitraum hinweg angeordnet werden; zugestanden wird in der Rechtsprechung in der Regel ein Zeitraum von einem Jahr bis zu anderthalb Jahren. Dieser Zeitraum war abgelaufen – das Verfahren der Teileinziehung aber noch nicht abgeschlossen. Die Friedrichstraße hätte wieder für den Autoverkehr geöffnet werden müssen, um sie bald darauf – nach Abschluss der Teileinziehung – direkt wieder zu sperren. Das wollte der Verkehrssenat – nachvollziehbarerweise – vermeiden. Vor diesem Hintergrund erlies er im Oktober 2021 (sowie nachfolgend noch einmal verlängernd im Juni 2022) eine neue verkehrsrechtliche Anordnung – nämlich eine „Überbrückungsanordnung“ –, mit der die Sperrung der Friedrichstraße bis zum erwarteten Abschluss des Teileinziehungsverfahrens aufrechterhalten werden sollte. Diese Überbrückungsanordnung brachte jedoch das sprichwörtliche Fass bei einer anliegenden Gewerbetreibenden zum Überlaufen – sie klagte gegen die Anordnung vor dem Berliner VG.
Worüber genau hat das VG Berlin entschieden – und worüber nicht?
Entscheidend ist: Das Berliner VG hat in seinem Beschluss ausschließlich die Überbrückungsanordnung für den Zeitraum ab Juni 2022 bewertet. Diese, und nur diese, beurteilte es – für Eingeweihte wenig überraschend – als rechtswidrig. Die engen und schon vielfach auch im Rahmen anderer Verkehrsprojekte beleuchteten Voraussetzungen des § 45 StVO stellen nach (richtiger) Auffassung des VG Berlin keine Rechtsgrundlage für die Überbrückungsanordnung dar. Dies v. a. deshalb, weil dieser Anordnung über ihre Funktion zur zeitlichen Überbrückung hinaus kein eigenes Verkehrskonzept zugrunde lag. Wichtig ist jedoch auch ein zweiter Aspekt: Das VG Berlin wies (ebenfalls zu Recht) darauf hin, dass mit der wiederholten zeitlichen Streckung der verkehrsrechtlichen Sperranordnung für die Friedrichstraße die Voraussetzungen des Teileinziehungsverfahrens unterlaufen werden: Mit der Anordnung einer Verkehrsbeschränkung auf der Grundlage des Straßenverkehrsrechts dürfe kein Zustand dauerhaft herbeigeführt werden, der im Ergebnis auf eine endgültige Entwidmung oder Teileinziehung hinauslaufe.
Gar nicht geurteilt hat das VG Berlin hingegen – anders als vielfach in nicht recht differenzierenden Presseberichten und Entscheidungsbesprechungen suggeriert – über erstens das (ja noch nicht einmal abgeschlossene) Verfahren der Teileinziehung, d. h. die Umwandlung in eine Fußgängerzone, sowie zweitens die vorausgehende Sperrung der Friedrichstraße von August 2020 bis Oktober 2021 für den Verkehrsversuch. Soweit zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags bekannt, will der Berliner Verkehrssenat das Verfahren der Teileinziehung der Friedrichstraße und damit deren dauerhafte Sperrung für den Autoverkehr weiterhin abschließen – wogegen das VG Berlin in seiner Entscheidung mangels Gegenständlichkeit auch nichts eingewandt hat.
Was bedeutet die Entscheidung des VG Berlin also für andere Verkehrsprojekte?
Nach alledem beschränkt sich die Bedeutung der Entscheidung des VG Berlin im Wesentlichen darauf, der Öffentlichkeit eine weitere Posse der Berliner (Verkehrs-)Verwaltung darzustellen – und zugleich über ihre (Presse-)Rezeption viel neue Aufregung in Debatten über die Mobilitätswende einzubringen. Was bleibt jedoch tatsächlich festzuhalten mit Blick auf die Umsetzung von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen? Es lohnt auch weiterhin ein fachlicher Blick auf die Anforderungen von insbesondere zwei Möglichkeiten, mit denen die Benutzung von Straßen oder Straßenteilen aus verkehrlichen Gründen nach § 45 StVO beschränkt oder verboten werden können:
Das umfasst zum einen die bereits erwähnten Verkehrsversuche auf Grundlage von § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6, 2. Var. StVO (sog. Experimentierklausel). Anders als für die meisten anderen Maßnahmen, die auf § 45 StVO gestützt werden können, muss seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2020 für Verkehrsversuche keine erhöhte straßenverkehrsrechtliche Gefahrenlage mehr nachgewiesen und begründet werden (§ 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 7 StVO). Erforderlich ist jedoch, dass die Gemeinde ein konkretes Ziel des Verkehrsversuchs formuliert sowie im Mindestmaß folgerichtig, planvoll und systematisch zur Erreichung des Ziels vorgeht insoweit, als die im Wege des Verkehrsversuchs angeordneten Maßnahmen bezogen auf die Erreichung des Ziels mindestens hinreichend bestimmt, geeignet und erforderlich sein müssen.
Praktisch sehr relevant ist zum anderen die Möglichkeit zur Anordnung von verkehrsberuhigenden Maßnahmen auf Grundlage von § 45 Abs. 1b Satz 1 Nr. 5 StVO. Danach können die Behörden verkehrsberuhigende Anordnungen treffen, um eine geordnete städtebaulichen Entwicklung zu unterstützen. Hierfür ist Voraussetzung, dass ein städtebauliches Konzept der Kommune vorhanden ist, das sich auf Verkehrsaspekte bezieht – wobei die konkreten Anforderungen an derartige Konzepte viele Berliner Behörden seit langem beschäftigen. Es genügt nicht, dass eine Kommune Überlegungen zur Erhöhung der Aufenthaltsqualität in einem bestimmten Bereich oder zur Attraktivität eines Standortes anstellt. Gefordert ist vielmehr eine konkrete verkehrsmäßige Planung, welche die Neuordnung von Verkehrsströmen und dabei die Betrachtung von Verlagerungseffekten beinhaltet, also prüft, welche bestimmten Straßenzüge entlastet und welche demgegenüber in für Anwohner:innen zumutbarer Weise belastet werden sollen. Sofern ein solcher Verkehrsbezug des Konzeptes hinreichend sichergestellt ist, ist es freilich völlig legitim, wenn die Neuordnung der Verkehrsströme kein Zweck für sich bleibt, sondern einem übergeordneten – städtebaulichen – Zweck dient.
Die Mobilitätswende kann unter dem Blickwinkel der Verkehrsberuhigung von Innenstädten also ohne neue rechtliche Hindernisse weiterverfolgt werden.
Update aus der Redaktion:
Seit dem 1. Juli 2023 ist die Friedrichstraße vorerst wieder für den Autoverkehr freigegeben. „Mit der Öffnung der Friedrichstraße für den Kfz-Verkehr sind wir einem gerichtsanhängigen Eilverfahren zuvorzukommen“, so Dr. Manja Schreiner, Berliner Senatorin für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt. Sie kündigte jedoch an, ein Gesamtkonzept für die historische Mitte erarbeiten zu wollen. Um die Ideen und Wünsche der Anwohner:innen berücksichtigen zu können, plant die Senatsverwaltung einen Beteiligungsprozesse für die historische Mitte, der im Herbst starten soll. Das Bezirksamt Mitte betont in seiner Pressemitteilung vom 23. Mai 2023, dass es auf langfristige Ideen hoffe, mit denen die Aufenthaltsqualität für alle Verkehrsteilnehmer:innen, vor allem für die Fußgänger:innen, spürbar gesteigert werden könnten.
Am 28. August 2023 stellte der Berliner Kultursenator Joe Chialo die Idee vor, die Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) im Quartier 207 der Friedrichstraße unterzubringen. Ob der neue ZLB-Standort im zukünftigen Diskurs der Friedrichstraße eine Rolle spielen wird, bleibt abzuwarten. Fest steht aber: In Berlin-Mitte bewegt sich so einiges.
Dr. Tina Ines Schmidt
ist als Rechtsanwältin am Berliner Standort der auf Energierecht spezialisierten Sozietät BRAHMS NEBEL & KOLLEGEN tätig. Sie berät Mandant:innen in Bezug auf das Genehmigungs- und Umwelt- und Planungsrecht für Vorhaben der Erneuerbaren Energien. Gegenstand ihrer Beratung sind zudem kommunale Verkehrsmaßnahmen sowie Projekte der Stadtentwicklung hinsichtlich Rechtsfragen des öffentlichen Baurechts und der Bauleitplanung.
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