
Eliza Diekmann, Bürgermeisterin der Stadt Coesfeld. // © Stefan Finger
Die Aussicht, ganz ohne Erfahrung in der aktiven Politik Bürgermeisterin einer Stadt mit über 36.000 Menschen zu werden, kann einen durchaus mit Angst erfüllen. Ich möchte die Frage aber gerne umdrehen: Wie hast du den Mut aufgebracht, diese Entscheidung zu treffen?
Es brauchte einige Menschen in meinem Umfeld, die mich geschubst haben. Zunächst ging es mir gar nicht um das Amt als solches, sondern in erster Linie um den Wahlkampf. Durch die Herausforderungen, die sich dabei stellten, habe ich mir Schritt für Schritt Sicherheit und Selbstvertrauen erarbeitet. Der erste Impuls für meine Kandidatur war aber ehrlicherweise nicht Mut, sondern Wut. Und die bringt bekanntermaßen viel Energie.
Worauf warst du wütend? Waren die Zustände in Coesfeld derart unzumutbar?
Ich war darauf wütend, dass es im Kommunalwahlkampf nur einen einzigen Kandidaten gab. Damit war es für mich keine demokratische Wahl. Ich wollte eine Diskussion um Demokratie anstoßen, daraus ist meine Kandidatur entstanden.
Schon im Wahlkampf hast du auf absolute Transparenz gesetzt, auch was das Private angeht. Heute, da du Bürgermeisterin bist, kennzeichnet dieser Ansatz deinen Politikstil. Dabei machst du dich auf diese Weise durchaus angreifbar.
Vor den Konsequenzen der Transparenz habe ich keine Angst. Es war eher das Gegenteil, das mich zu dem Schritt bewogen hat. Im Wahlkampf wollte ich alles zeigen und offenlegen, damit mir im Nachhinein niemand vorwerfen kann, ich hätte irgendetwas vorgespielt. Ich wollte unbedingt authentisch kommunizieren, dass ich durchaus Wissenslücken habe und nicht alles kann. Die Menschen haben mich „trotzdem“ gewählt, was mich jetzt wiederum ermutigt. Sie haben mir damit gezeigt, dass sie mit mir und all meinen „Fehlbarkeiten“ einverstanden sind.
Besteht dieser Rückhalt heute noch, nach anderthalb Jahren im Amt, oder gibt es auch Gegenwind?
Grundsätzlich nehme ich eine sehr breite Unterstützung wahr. Durch meinen Ansatz konnten die Menschen sehr schnell eine große Nähe zu mir aufbauen, was eine ganz andere Art der Unterstützung ermöglicht, als sie eine fremde oder unnahbare Person erfahren könnte. Manche sehen das zwar immer noch skeptisch und meinen, ich müsste mich staatstragender geben. Und anfangs wurden die Themen wie mein Alter, die Verwaltungserfahrung, die ich nicht habe, oder meine noch kleinen Kinder immer wieder kritisch betrachtet. Aber seit ich im Amt bin und mit meinem Handeln überzeugen kann, gibt sich das.
Dir schlägt also nicht diese Abschätzigkeit entgegen, mit dem sich zum Beispiel gerade erst Sanna Marin, die finnische Premierministerin, auseinandersetzen musste?
Was meine Erfahrung angeht, nicht mehr. Die habe ich ja nun auch schon sammeln können. Wenn ich aber über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder unterschiedliche Lebensmodelle spreche, dann durchaus. Hier in unserem ländlich geprägten Raum gibt es für viele nur ein einziges Schema, und jeder, der davon abweicht, wird als andersartig und außen vor angesehen. Als Gesellschaft sind wir da noch nicht so weit, wie ich gedacht hatte. Deswegen ist es mir so wichtig, die Horizonte zu weiten. Als Reaktion darauf bekomme ich dann wiederum gerne den Hinweis, das sei nun nicht das, was uns als Stadt bewege.
Diese Themen werden als weniger wichtig wahrgenommen – obwohl sie die Stadtgesellschaft enorm beeinflussen. Stört es dich, dass sie den Blick auf dich mehr bestimmen als deine anderen fachlichen Kompetenzen?
Ich finde es sehr spannend, dass nahbaren, offenen Menschen eine geringere fachliche Expertise zugesprochen wird. Manche sehen in mir nicht mehr als die nette junge Frau, die ihnen sofort das Du anbietet – als wäre das mein gesamter Inhalt. Das kommt gerne vor, wenn ich Termine mit meinem Beigeordneten habe, der Mitte 60 ist und seit 30 Jahren in der Stadt aktiv. Zum Glück sind wir ein gutes Team und spielen uns die Gesprächsanteile zu. Er weiß ja um meine Arbeit. Aber es ärgert mich, dass ich, weil ich jung und neu bin, von meinem Gegenüber automatisch anders positioniert werde.
Musst du dich innerhalb der Verwaltung auch immer noch beweisen, oder ist das Wissen um deine Kompetenz dort gefestigt?
Das ist es, auf jeden Fall. Wir konnten uns in den letzten anderthalb Jahren sehr gut kennenlernen und intern gibt es einen starken Zusammenhalt. Die Menschen im Team sind auf der Höhe der Zeit. Wir haben in unserer Unternehmenskultur große Veränderungen angestoßen, die sich viele schon lange gewünscht hatten. Vielleicht hat sich der eine oder andere noch nicht ganz daran gewöhnt, dass wir Hierarchien abgebaut und flexible Arbeitszeiten eingeführt haben oder dass wir digital arbeiten. Aber unseren heutigen Stand haben wir in zahllosen Runden gemeinsam erarbeitet.
Wie sieht dieser heutige Stand aus?
Wir haben vor allem unsere Kommunikation verändert und transparenter gestaltet. Wir wollen zeigen, wie wir arbeiten und welche Pläne wir haben, um ein breites Verständnis für die verschiedenen Maßnahmen zu ermöglichen. Die Menschen bei Entscheidungen mitzunehmen, ihnen die Beweggründe darzulegen, damit sie sich nicht persönlich angegriffen oder eingeschränkt fühlen, das ist meiner Meinung nach das A und O. Wir wollen erreichen, dass Verwaltung und Bevölkerung in einem Gefühl von kollegialem Miteinander zusammenarbeiten. Dem steht die Ausbildung in der Verwaltung gefühlt in direkter Opposition gegenüber. Wenn sich die ersten Unterrichtseinheiten der Ausbildung mit den Zuständigkeiten im Verwaltungsapparat befassen, gehen daraus Angestellte hervor, die eben diese zuerst bei jemand anderem suchen. Ich will aber, dass unsere Verwaltung zusammen mit der Fragestellerin oder dem Fragesteller auf Lösungssuche geht, anstatt die Anfrage reflexhaft weiterleiten zu wollen. Darüber hinaus haben wir mit der Stadtgesellschaft zusammen viele Beteiligungsformate eingeführt, die jetzt regelmäßig stattfinden. So „müssen“ wir als Stadt immer wieder informieren, profitieren aber gleichzeitig von der Erleichterung eines Automatismus: Es muss nicht jeder Infotermin in einem großen Angang geplant werden.
Das sind tiefgreifende Neuerungen. Lief deren Umsetzung immer reibungslos?
Sicher nicht; an manchen Stellen haben wir uns etwas verrannt. Aber zur Transparenz gehört auch eine gelebte Fehlerkultur. Wir sind da ganz offen: Wir als Verwaltung, als Stadt wollen ein hohes Tempo, denn wir wollen viel erreichen – und damit haben uns die Menschen durch die Wahl ja beauftragt. Natürlich passieren so durchaus Fehler. Dank ihnen wissen wir dann aber, welcher Weg gangbar ist und welcher nicht. Nur so können wir lernen und uns weiterentwickeln. Wer immer auf die perfekte Lösung wartet, wird lange auf die Umsetzung warten müssen.
Was ist deine Strategie, um bei solchen großen Projekten wie der Umgestaltung der Verwaltung Kritikerinnen und Zweifler auf deine Seite zu bekommen?
Ich versuche immer, mich in mein Gegenüber hineinzuversetzen. Wenn die Menschen verstehen, dass meine Empathie echt ist und ich ihr Anliegen tatsächlich nachvollziehen kann, dann aber noch einmal die Faktenlage und andere Belange aufzeige – dann können die Menschen wirklich akzeptieren, dass eine Lösung für sie persönlich nicht ideal sein mag, es aber anders nicht geht. Mit der Herangehensweise komme ich größtenteils gut klar.
Bei dem Stichwort Empathie und bei deinem Ziel der Nahbarkeit kommt mir eine weitere Premierministerin in den Sinn: die Neuseeländerin Jacinda Ardern.
Ich habe mich in meinem Wahlkampf näher mit Jacinda Ardern beschäftigt und mich in vielen Punkten in ihrem Politikstil wiedergefunden. Je mehr ich mich damit auseinandersetze, desto mehr Menschen lerne ich kennen, die auf diese Weise arbeiten und denken. Der Ansatz, den Menschen die Wahrheit zuzumuten, damit sie etwas vollumfänglich verstehen, ist das, was wir gerade brauchen. Und er wird nicht nur von Frauen umgesetzt. Ein Robert Habeck hat auch einen ganz anderen Politikstil als er zuvor üblich war, was Information und Mitnahme angeht.
Gibt es noch weitere Vorbilder für Deine Herangehensweise?
Auf einer Skandinavienreise ist mir vor Kurzem ein ganz anderes Vertrauen in die Stadtgesellschaft begegnet: In Helsinki wird eine wunderschöne neue Stadtbücherei gebaut, mit 3D-Druckern und absoluten High-Tech-Geräten vor Ort – und es gibt keine Sicherung am Eingang. Auch die einzelnen Medien sind nicht gesichert. Weil die Verwaltung grundsätzlich davon ausgehen will, dass nichts gestohlen wird. Allein diese Geste des Vertrauens den Nutzerinnen und Nutzern gegenüber hat eine enorme Wirkung, das macht etwas mit den Menschen und mit dem Miteinander. Genauso wenig gesichert in Helsinki sind übrigens das Rathaus und die Ministerien – wo wir hier im Haus für jeden Gang zur Kaffeemaschine das Büro abschließen! Das ist Vorschrift, aus Datenschutzgründen. Es ist aber auch eine Misstrauensgeste dem Kollegen gegenüber, der nebenan sitzt. Was macht das mit der Atmosphäre und dem Miteinander?
Ob im Politikstil oder in der Verwaltung – du hast viele neue Ideen und Ziele. Aber Neues macht vielen Menschen ja erst einmal Angst.
Das ist so und es kann sehr anstrengend sein, dagegen anzuarbeiten. Diese Ängste stecken in uns allen. Immer wenn eine Veränderung ansteht oder ein neuer Akteur die Bühne betritt, gibt es zuerst einmal Vorbehalte. Das merken wir auch bei uns in der Stadtentwicklung. Die Kritik, die hier aufkommt, hat meistens etwas mit Alltagsgewohnheiten zu tun, die verändert werden müssen, wovor Stadtbewohner wie Handel und Gastronomen Angst haben. Zum Beispiel bei unseren Mobilitätsprojekten: „Die Menschen werden nie mehr zu uns kommen, wenn sie nicht ihre gewohnten Wege gehen können!“, heißt es da manchmal. Solchen Befürchtungen mit Kommunikation und Beteiligung zu begegnen, bedeutet ungeheuer viel Arbeit.
Mit deinem Wissen und deinen Erfahrungen, die du heute hast – würdest du noch einmal deinen Wahlkampf starten?
Auf jeden Fall! Ich will ganz entschieden Werbung für dieses Amt machen. Es ist unheimlich viel Arbeit und man ist manchmal unter starkem Beschuss. Es gibt aber genauso viele Momente, in denen ich mich fühle, als wäre ich beim Stage Diving, absolut euphorisierend. Ich kann unglaublich viel gestalten und mit tollen Menschen tolle Dinge voranbringen. Ich habe eine verantwortungsvolle Führungsposition, die ganz anders ist als das verstaubte Bild, das viele von diesem Amt und von Verwaltungsjobs im Kopf haben mögen. Es ist sehr bunt und lebendig hier im Rathaus! Es könnte uns in Deutschland so sehr voranbringen, wenn wir an diesen Stellen frische neue Menschen sitzen hätten. Und keine Angst vor der Rolle und dem Amt! Auch im Rathaus wird nur mit Wasser gekocht.
Vielen Dank für das ermutigende Gespräch!
Eliza Diekmann
ist parteilose Bürgermeisterin für [sic] Coesfeld, gelernte Journalistin, studierte Politologin und Kommunikationswissenschaftlerin und hat bis zu ihrer Wahl in der Unternehmenskommunikation gearbeitet. Mit ihrem Fokus auf Kommunikation, Transparenz und Beteiligung hat sie in der Stadt einen Nerv getroffen: Ohne jeden Hintergrund in der Kommunalpolitik wurde sie 2020 mit 66,9 % der Stimmen als erste Frau in ihr heutiges Amt gewählt.
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