
© David Matthiessen
Es scheint, als hätte die Corona-Pandemie das Fass zum Überlaufen gebracht, unsere Wahrnehmung des eigenen Lebensraumes neu sortiert und uns etwas offener für einen Gesinnungswandel gemacht. Wir haben wiederentdeckt, dass die Räume in und zwischen den Häusern tatsächlich Lebensräume und damit deutlich mehr als die Transitzonen des täglichen Sprints zwischen den persönlichen Abhängigkeiten und Verpflichtungen sind. Wir haben die Qualität des raumhohen Fensters und die feine Textur des unversiegelten Holzbodens wiederentdeckt. Der Englische Landschaftsgarten und die unberührte Natur wurden der Ort der Wahl. Der zugeparkte Straßenraum vor der Tür wurde zum Fußballplatz der Kinder.
Aber was ist denn schiefgelaufen? In der jahrzehntelangen Optimierung unserer Gesellschaft haben wir das Einzelne über das Ganze gestellt. Wir haben die Arbeit und die Freizeit optimiert, jedoch zu wenig den Übergang und die Schnittmenge betrachtet. Wir haben den Verkehrsfluss auf verschiedenen Ebenen optimiert, ohne die Notwendigkeit des Transports und dessen Auswirkungen auf die Umwelt ernst genug zu nehmen. Schlussendlich schufen wir Freiräume und Gebäude, die wohlproportioniert durch Pragmatismus und Effizienz geprägt waren, vergaßen aber zu oft deren Auswirkungen auf das tägliche Leben zu betrachten. Solche Systeme sind zum Scheitern verurteilt. Sie werden nur so lange halten, bis sie wieder an ihre Grenzen stoßen.
Die Herausforderung für die Zukunft liegt in der richtigen Verknüpfung der Dinge und dem Respekt gegenüber dem Individuum. Wenn wir für den Menschen bauen, müssen wir dessen Lebensweise, seine Gewohnheiten in den Vordergrund stellen und nicht die gestalterischen des Architekten oder die ökonomischen des Entwicklers. Als Quelle der Inspiration dient mehr denn je die wertvollen Quartiere aus der Gründerzeit, in denen Wohnen, Gewerbe, Erholung, Bildung und Kultur in Einklang gebracht wurden. Neben der richtigen Mischung aus Wohnen und Arbeiten wurde das Quartier auch sozial programmiert. Es gab Platz für Individualität, Muße und Kommunikation.
Wir können auch heute solche Städte bauen, die lange Bestand haben. Dazu spielen uns die aktuellen Entwicklungen in die Karten. Das mobile und damit dezentralisierte Arbeiten wird den wohnungsnahen Arbeitsplatz wiederentdecken. Co-Working im Erdgeschoss oder im Pavillon des Hinterhofs reduziert nicht nur den Verkehr, sondern stärkt auch das soziale Gefüge der Nachbarschaft. So werden auch Einzelhandel und Gastronomie in die Wohnquartiere zurückkommen. Der Lebensraum wird wieder kompakter, die Straßenräume wieder belebter und sicherer. Die Nachbarschaft wird wieder zu einem sozialen Faktor. Gleichzeitig wird ein Großteil des Individualverkehrs mit dem Fahrrad und zu Fuß zu erledigen sein. Die Etablierung des autonomen Fahrens wird den ruhenden Verkehr in unseren Straßen reduzieren und diesen den Menschen zurückgeben.
Freiräume müssen wieder mehr sein als Feuerwehraufstellflächen. Sie dienen der Nachbarschaft und dem Quartier als Kommunikations- und Erholungsraum. Die Pflege muss dabei nicht vollständig auf die Befahrbarkeit durch Aufsitzmäher optimiert werden. Der parzellierte Mietergarten im inneren des Blocks ist auch heute noch ein erfolgreiches Modell, der das Individuelle und das Gartenzaungespräch fördert.
Die Hoffnung das mit der Individualisierung unserer Städte auch die Rückbesinnung nach baulicher Qualität und Dauerhaftigkeit zurück kommt ist groß. Wir verstehen bei der Betrachtung des Gebauten, dass insbesondere die handwerklich gefertigten Oberflächen und Bauteile den Charme erzeugen. Die individuell gemauerte Klinkerfassade, das hölzerne Doppelfenster mit Walzglas und der abgenutzte Fischgrätparkett werden Wärmedämmverbundsystem, Kunststofffenster und Laminatboden um Längen überleben. In Wirklichkeit beginnen Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit an dieser Stelle. Sanierungsfähigkeit und flexible Nutzung müssen zwingend in die Betrachtung einfließen.
Vielleicht schauen wir das gemeinsame Leben in den Städten noch einmal genauer an, bevor wir weiterbauen. Beispiele für dauerhafte Entwicklungen hat fast jede Epoche geschaffen. Wir werden dabei feststellen, dass die guten Beispiele im Rahmen dessen entstanden sind, dass heute leistbares Wohnen genannt wird. Zusammen mit den Errungenschaften der Gegenwart, der intelligenten Vernetzung von Personen und Dingen und der Digitalisierung des Planens und Bauens sind wir für die lebenswerte Zukunft gerüstet.
PATRICK STREMLER
studierte Architektur an der Universität Karlsruhe. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter untersuchte er dort später den Einfluss von Globalisierungsfaktoren auf den öffentlichen Stadtraum von Megacities. Ab 2007 arbeitete er als Projektleiter und ab 2012 als Projektpartner bei Behnisch Architekten. Dort verantwortete er unter anderem Entwurf und Umsetzung des Konferenzzentrums der WIPO in Genf. Seit 2016 ist er Geschäftsführender Gesellschafter bei Dietrich | Untertrifaller und hält regelmäßig Vorträge auf renommierten internationalen Veranstaltungen.
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