
© Jan Kamensky
Der „Boulevard Utopique“, eine knapp über zweiminütige Animation des Hamburger Artdirectors Jan Kamensky zeigt, wie innerstädtische Stadträume ohne motorisierten Verkehr aussehen könnten. In weiteren Videos transformiert der Kommunikationsdesigner unter anderem Wien, Hamburg und Berlin auf ähnliche Weise und sorgt mit seinen Visionen für Aufsehen.
Seinen Anfang nahm das Projekt im März 2020. „Die Corona-Pandemie eröffnete den Raum, indem ich erkannte, dass ich mich nicht länger damit begnügen möchte, auf den immer dringenderen gesellschaftlichen Wandel zu warten. Ich wollte selbst einen Beitrag leisten, der ihn befördert. Welcher das sein konnte, war mir anfänglich überhaupt nicht klar. Was kann ich tun? Wie kann ich meine Fähigkeiten einsetzen? Diese Frage stellen sich vermutlich einige unter uns.“

© Selim Sudheimer
Als visueller Gestalter ist Jan Kamensky mit offenen Augen unterwegs und so betrachtete er zunächst seine Umgebung mit der Fragestellung, was ihn und andere Menschen täglich umgibt und wo er ansetzen könnte: „Wo sehe ich dringenden Handlungsbedarf in meiner Umwelt, oder besser: Mitwelt? Die leeren Straßen zu Beginn der Pandemie führten mir schließlich vor Augen: Ich möchte mir eine Stadt ohne Autos ansehen. Was passiert mit den Straßen, wenn wir sie vom Auto befreien? Wie lassen sich die neu gewonnenen Räume gestalten?“
Die Antworten gibt Jan Kamensky sich und den Betrachter:innen seiner Filme, indem er Photoshop für die Bildbearbeitung und After Effects für die Animation nutzt. Als Grundlage für die Animation verwendet er Fotografien, aus denen im späteren Verlauf bewegte Bilder werden. Zunächst werden sämtliche Bestandteile, die er später animieren möchte, freigestellt – beispielsweise Autos, Straßenschilder, Ampeln oder Bürgersteige. Dort, wo ein Element ausgeschnitten wurde, retuschiert er. „Das hat manchmal etwas von Malerei. Sobald die Straße von Autos & Co. befreit ist, tut sich ein weißes Blatt Papier auf, wie ich es nenne.“ Neuer Raum also für Gestaltung, in dem der Designer seine utopische Vision einer autofreien bzw. autobefreiten Welt schafft. Zunächst entsteht der statische Entwurf, den er im Anschluss im Animationsprogramm After Effects in Bewegung bringt. „Über die Dynamik habe ich hier die Möglichkeit, eine Geschichte zu erzählen“, erklärt Jan Kamensky. „Dadurch kann ich Dinge hervorheben und zu einem verstärkten Bewusstsein beitragen. Zum Beispiel, wenn ich Straßenschilder fliegen lasse und damit zeige, wieviel Raum wir der für das Auto ausgerichteten Verkehrsinfrastruktur opfern.“

© Jan Kamensky
Damit wolle er die Menschen zur Reflexion einladen: „Als meine Aufgabe sehe ich es mittlerweile an, visuelle Kommunikation für den Wandel zu gestalten. Damit bin ich in gewisser Hinsicht auch als Übersetzer tätig. Theoretische Erkenntnisse werden in die Sprache der Bilder übersetzt. Dabei entfalten die Bilder eine besondere Qualität, die auf niedrigschwellige und eingängige Weise zu den Betrachter:innen gelangt – ob jung, ob alt, wo auch immer. Die utopische Herangehensweise trägt dabei eine entscheidende Funktion: Nachdem die Betrachter:innen einen Blick auf die Utopie haben werfen können, kehren sie mit einem geschärften Blick in die Realität zurück. Die Bewusstseinserweiterung steht im Vordergrund, nicht so sehr die Realisierbarkeit. Wobei ich mich über die Umsetzung natürlich freuen würde.“
Doch wie könnte so eine Umsetzung tatsächlich aussehen? Wie sieht aus seiner Sicht eine erfolgreiche Mobilitätswende aus? Jan Kamensky ist überzeugt, dass die Mobilitätswende erst gelungen ist, „wenn sie nicht nur auf den Straßen, sondern auch in den Köpfen der Menschen vollzogen wird.“ Neben einer auf das Wohl der Menschen ausgerichteten Verkehrsinfrastruktur brauche es eine neue Haltung, eine veränderte Mentalität zur Mobilität. „Wirmüssen uns bewusst machen, welche Auswirkungen unsere Fortbewegung auf unsere Erde hat. Auch wenn sie auf den ersten Blick grün daherkommt. Eine nachhaltige Mobilitätswende kann nur gelingen, wenn wir der Konsistenz (Energieformen) und der Effizienz (technologische Lösungen) auch die Suffizienz hinzufügen. Soll heißen, dass wir einen genügsamen Lebensstil entwickeln, bei dem wir auf bisherige Gewohnheiten verzichten. Die Fortbewegung ist nur dann ökologisch und sozial nachhaltig, wenn wir uns freiwillig selbst begrenzen und weniger konsumieren. Dazu gehört, dass wir in erheblichem Maße Energie und Material einsparen. Die Elektromobilität kann beispielsweise unmöglich nachhaltig sein, wenn wir neben dem veränderten Antrieb nicht gleichzeitig deutlich die Benutzung der Fahrzeuge reduzieren. Ansonsten geraten wir in Gefahr, die Intensität unserer Mobilität aufgrund der vermeintlich grünen Beschaffenheit gar zu steigern.“ Damit entstünde ein Rebound-Effekt, der nachhaltige Ambitionen egalisiere. „Ein E-Auto darf nicht dazu anstiften, mehr damit zu fahren als mit einem Verbrenner. Abgesehen davon steht ein elektrisch-angetriebenes Auto immer noch die meiste Zeit nur im öffentlichen Raum herum.“ Ob diese Form der Mobilität weltweit für alle Menschen im fahrtüchtigen Alter nachhaltig sein könnte, bezweifelt Jan Kamensky: „Wenn wir E-Auto fahren, dürfen das dann alle – überall und jederzeit? Hinsichtlich des begrenzten Raumes, der uns zur Verfügung steht, ist das unmöglich.“
Und sein (Aus-)Blick in die Zukunft? „Was mir Hoffnung macht, ist, dass wir die autofreie und durchaus genügsame Lebensweise bereits verwirklicht hatten. Viele unserer Straßen sind ursprünglich schließlich nicht fürs Automobil errichtet worden. Die Menschen in den Städten haben bewiesen, dass ein Leben ohne das Auto möglich ist. Nutzen wir unseren technologischen Fortschritt dafür, dass wir nicht wieder zu Pferd und Kutsche umsatteln müssen. Setzen wir ihn so ein, dass Mobilität tatsächlich nachhaltig wird. Außerdem ist das genialste Fortbewegungsmittel bereits erfunden: das Fahrrad.“
Weitere Informationen: vimeo.com/jankamensky
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