
© Schaffitzel Holzindustrie GmbH + Co. KG, Burkhard Walther
Sie ist ein Entwurf, der viele Architekten wie Ingenieurinnen reizt: die Brücke. Sie unterliegt strengen statischen Voraussetzungen und hat doch sogar Potenzial zum Poetischen. Santiago Calatrava, Architekt einiger der eindrucksvollsten Brücken der neuesten Zeit, sagt über die Bauaufgabe: „Der Bau einer Brücke ist meiner Meinung nach eine symbolische Geste, die mit den Bedürfnissen der Menschen, die sie überqueren, und mit der Idee der Überwindung von Hindernissen verbunden ist. Eine moderne Brücke kann auch ein Kunstwerk sein. Sie trägt dazu bei, unser tägliches Leben zu gestalten, und wird für alle Menschen, die sie benutzen, zu einer lebendigen Erfahrung.“

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Diese Erfahrung kann besonders eindrücklich entstehen, wenn das lebendige Material Holz zum Einsatz kommt. Es wirkt nicht nur optisch, sondern auf das kollektive Gedächtnis, denn was hätte mehr Tradition als eine Brücke aus Holz. Von den ersten Baumstämmen, die absichtlich über einen Bach gelegt wurden, hin zu den hochkomplexen Ingenieursbauten, die heute entstehen, war es ein langer, faszinierender Weg. Das Ingenieursbüro Miebach aus Lohmar hat sich ganz dem Thema verschrieben. Die Verbindung der Tradition mit heutigen Anforderungen an Gestaltung und Materialeigenschaften ist es, die das Team begeistert und dazu motiviert, die Möglichkeiten des Ingenieurholzbaus immer weiter auszuloten. „Holz ist ein sehr leistungsfähiges Material und macht als nachwachsender Rohstoff einen nachhaltigen Einsatz möglich. Zudem lassen sich mit Holz moderne, ästhetische Konstruktionen realisieren und Alternativen zu energieintensiven Bauweisen entwickeln“, fasst das Büro seine Motivation zusammen.

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In der kleinen Gemeinde Neckartenzlingen in der Region Stuttgart haben die Planer mit dieser Herangehensweise eine Brücke realisiert, die in dieser Ausführung bisher einzigartig in Deutschland ist. Die 96 m lange Fußgänger- und Radwegbrücke befreit Menschen, die ohne Auto unterwegs sind, von der Kopplung mit der stark befahrenen Neckarbrücke der Bundesstraße etwa 100 m weiter südlich. Heute läuft der Neckartalradweg dort komplett losgelöst vom motorisierten Verkehr und mit einer Breite von 3 m bietet die Brücke ausreichend Platz für Fußgänger und Radfahrerinnen. Die Brücke war bereits in Stahl geplant, als Jürgen Brandt in seiner Rolle als Ortsbaumeister beim Brückenbausymposium die Anregung dazu fand, zum Vergleich einen Entwurf in Holz in Auftrag zu geben. Das Ergebnis war ein Vorschlag, der bei vergleichbaren Kosten mit Innovationskraft und ansprechender Gestaltung überzeugte.

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Es ist schwer, die Brücke und ihre Erscheinung zu beschreiben, ohne auf die hochspezialisierten Vokabeln der Tragwerksplaner zurückzugreifen. „Die Brücke zeichnet sich durch einen raffiniert gestuften blockverklebten Brettschichtholzträger aus, der durch diese spezielle Form konstruktiv geschützt ist“, beschreibt es etwa die ausführende Firma Schaffitzel und bringt damit tatsächlich auf den Punkt, wie sehr das Büro Miebach die Notwendigkeiten der Statik und des Holzschutzes in eine absolut überzeugende Ästhetik zu übersetzen vermocht hat. So ergibt sich die gestufte Verschlankung des Trägers aus dem 30°-Winkel, der das Holz auch vor Starkregen schützt. Bei einem derartigen konstruktiven Holzschutz lassen sich auch solche notwendigerweise langlebigen Bauten ohne den Einsatz von chemischen Holzschutzmitteln realisieren. Die Abstufung im Brückenkörper, die auch als ästhetischer Kunstgriff allein überzeugen würde, beruht auf der Entscheidung für die Konstruktion als Blockträgerbrücke: Bei dieser Bauweise entsteht das Haupttragwerk der Brücke aus zu Blöcken verklebten Trägern aus Brettschichtholz. Neben den konstruktiven und statischen Vorteilen — eine kompakte Querschnittsform, statisch geringere Konstruktionshöhen, Abtragen von Windeinwirkungen ohne zusätzlichen Aussteifungsverband — lassen sich so in mehrere Richtungen gekrümmte Bauteile herstellen.

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Diese Möglichkeit hat das Team des Büros Miebach genutzt, um der Brücke in Neckartenzlingen einen eleganten S-Schwung einzuschreiben, der ebenfalls ein Echo auf die Gegebenheiten ist: Die Form reagiert auf den anschließenden Wegeverlauf und den Fluss, den sie überspannt, womit sie sich organisch erschließt und in ihre Umgebung einfügt.
Wie weit sich der Ingenieurbau in seiner Entwicklung der Verbindung von Erfordernissen und Ästhetik geöffnet hat, zeigt der Blick auf die erste Brücke, die 1864 wie diejenige in Neckartenzlingen mit heute sogenannten Gerbergelenken konstruiert wurde. Diese verbinden die von den Ufern in Richtung Flussmitte reichenden Kragarme mit einem Mitteleinhängeträger in einem statisch bestimmten System. Nachdem die Neuerung des Ingenieurs Heinrich Gerber jahrelang unbeachtet blieb, attestierte die Deutsche Bauzeitung 1873 der nach rein statischen Gesichtspunkten in Stahl errichteten Brücke über den Main eine „abenteuerliche, hässliche Erscheinung“. Ein derartiges Urteil muss die Brücke in Neckartenzlingen wirklich nicht fürchten. Sie verkörpert die lebendige Erfahrung aus Statik und Ästhetik.
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