GUDRUN SACK: EIN KURATIERTER STANDORT

© Gerhard Kassner

Sehnsucht steht im Positiven auch für „ein schönes Schwelgen in den Vorstellungen vom großen Glück“. Wie sieht Ihre persönliche Vorstellung vom großen Glück in Ihrer Rolle als Architektin aus? Welche noch nicht realisierte Vision beschreibt eine innere Sehnsucht in Architektur und Städtebau von Ihnen am ehesten?

Ich beschäftige mich bereits seit sehr langer Zeit mit nachhaltigem Bauen und habe nicht nur eine innere Sehnsucht, sondern sehe in Berlin TXL auch eine einmalige Chance für die klimafreundliche Bauwende. Das Schumacher Quartier, das wir im östlichen Teil des ehemaligen Flughafen Tegel entwickeln, hat das Potenzial, ein Modellprojekt für die Stadt der Zukunft zu werden und bietet uns die Möglichkeit, soziale und ökologische Visionen zu verwirklichen.

Ich persönlich durfte bereits viele meiner Sehnsüchte umsetzen und es erfüllt mich mit großem Glück, Räume mit einer hohen Qualität zu realisieren. Denn nur solche Räume können die Zeit überdauern und entsprechend nachhaltig Bestand haben. Insofern ist es für mich in meiner Arbeit elementar, die Dinge stets mit der höchstmöglichen Qualität auf den Weg zu bringen. Das muss auch nicht zwangsläufig mit hohen Kosten einhergehen. Manchmal kommt es vielleicht nur auf die richtige Belichtung an. Meine Sehnsucht ist es, Räume zu schaffen, die über Jahrhunderte gute Räume sein können. Das ist ganz klar eine Herausforderung, aber eben auch genau das, was mich an dem Projekt in Tegel reizt. Die Grundlage dafür bilden die entsprechenden Prozessketten und die richtigen Verfahren. Nur so lassen sich schlussendlich gute Ergebnisse erzielen. Dahingehend konnte ich in den letzten Monaten einiges anstoßen und bin zuversichtlich, dass uns vieles dann auch gelingt. Eine Sehnsucht ist dabei auch die Integration von Animal-Aided Design in die Entwicklung. Wir wollen nicht nur für Menschen bauen, sondern auch Tiere von Anfang an mitdenken und Lebensräume für sie schaffen. Dass wir 25 bis 30% weniger Insekten und auch viel weniger Vögel haben als noch vor einigen Jahren, ist dramatisch und entsprechend müssen wir als Architektinnen und Architekten handeln. Dazu gehört es dann u.a. auch, über die Notwendigkeit von verglasten Eckfenstern oder verspiegelten Scheiben nachzudenken – beides ist tödlich für Vögel.

Wir blicken auf zehn Jahre Planung und jetzt geht es um die Umsetzung – das reizt mich sehr. Während meines Studiums bei Coop Himmelb(l)au habe ich gelernt, dass man stets 120% in eine Vision reingeben muss, um schlussendlich 20% davon realisieren zu können. Im Sinne der guten Architektur geht es also darum, mit einer großen Portion Idealismus an eine Sache heranzugehen und das machen wir hier in Tegel.

Sie agieren seit gut einem Jahr als Geschäftsführerin der landeseigenen Tegel Projekt GmbH und verantworten die Entwicklung des ehemaligen Flughafengeländes Tegel. Ein 500 ha großes Stück Stadt neu zu gestalten, ist nicht nur eine einmalige Chance, sondern auch eine große Herausforderung. Welche neuen Sehnsüchte hat diese Aufgabe in Ihnen geweckt und welche hoffen Sie zu erfüllen?

© Tegel Projekt GmbH, Macina

Als ich meinen Posten angetreten habe, war die Planung für das Areal weitestgehend abgeschlossen, insofern eröffnete sich mir kein überdimensionierter leerer Raum, der Sehnsüchte erweckt. Dennoch erweckt das Baumaterial Holz durchaus eine Sehnsucht in mir, die ich in der weiteren Arbeit verwirklichen möchte. Das gesamte Wohnquartier – das Schumacher Quartier – wird aus Holz gebaut werden. Nun ist es aber mein Anspruch und Ehrgeiz, dass auch möglichst viele Unternehmen, die sich im Forschungs- und Industriepark der Urban Tech Republic ansiedeln werden, nachhaltig und bestenfalls auch gänzlich aus Holz bauen. Tegel liegt praktisch im Wald und ich würde hier gerne die Vision einer Stadt aus Holz in die Realität umsetzen. Wir werden dafür ausschließlich Holz aus den Berliner Forsten verwenden. Hier wird ein Teil des Kiefernbestandes herausgenommen und mit Laubbäumen nachgepflanzt. Monokulturen aufzubrechen und ihn klimaresilient umzubauen, ist für den Wald tatsächlich sogar überlebenswichtig. Allein mit diesem Holz können wir das gesamte Schumacher Quartier und auch die Urban Tech Republic realisieren. Zudem können wir auf Materialsicherheit bauen, profitieren von kurzen Wegen und agieren unabhängig von internationalen Märkten. Ganz im Sinne der Nachhaltigkeit denken wir in regionalen Wirtschaftskreisläufen und setzen auf Betriebe in der Region. Wir wollen in der Region, mit der Region und mit dem Holz der Region bauen. Sie haben meine Sehnsüchte möglicherweise bereits erkannt: die Prozess- und Entscheidungsketten. Die Skizze bzw. die Vision liegt mir vor, aber der Weg von der Skizze zur Umsetzung ist ein weiter und dieser muss logisch und klug bereitet werden. Das ist mein Anspruch.

Insbesondere bei der Urban Tech Republic werden Sie auch Bestandsgebäude erhalten. Das historische Gebäude-Ensemble von gmp aus dem Jahr 1975 wird das Herzstück des Innovationsquartiers Urban Tech Republic bilden und in eine zukunftsweisende Hochschul- und Gewerbenutzung überführt. Welche Herausforderung bringt die Terminalstruktur mit sich?

© Tegel Projekt GmbH, Atelier Loidl

Tatsächlich werden nicht nur die Terminals, sondern auch die Nebengebäude aus den 70er Jahren erhalten. Diese stehen ebenso wie ein Großteil der Vorfeldflächen unter Denkmalschutz. Es kursiert das Gerücht, dass die Architekten von gmp Tegel ursprünglich ohnehin als Universität gebaut haben und schlussendlich dann ein Flughafen eingezogen ist. Das Hexagon des Terminal A eignet sich in jedem Fall sehr gut für die Berliner Hochschule für Technik und bietet in seiner geschlossenen Form tolle Möglichkeiten für die technischen Forschungsbereiche. Die Planung dazu ist bereits weit fortgeschritten und die Eröffnung für 2027 geplant. Aktuell dient der ehemalige Terminal als Ankunftszentrum für geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer. Es ist erstaunlich, wie gut die Umnutzung dieser Gebäude funktioniert.

Den Beton werden wir an den Stellen, die es uns erlauben, großzügig entsiegeln und ihn vor Ort upcyclen. In einem Modellquartier für Nachhaltigkeit muss es schließlich auch darum gehen, die Materialien vor Ort weiterzuverwenden. Bei all diesen Prozessen werden wir von Hochschulen, Instituten und deren Forschungsprojekten begleitet.

Haben neben den städtischen Infrastrukturen noch andere Zwischennutzungen in den Bestandsgebäuden Platz?

Auf das Thema Zwischennutzung haben wir von Anfang an sehr viel Wert gelegt, damit Tegel nicht bis zum Einzug der ersten Nutzungen nur eine geschlossene Baustelle ist. Erst kürzlich fand hier das Greentech Festival statt. Neben verschiedenen Events, die hier immer wieder Platz finden können, vermieten wir die Bestandsgebäude aber auch an Firmen und sind sehr stolz, dass seit Anfang 2022 bereits mehrere Spezialisten für autonomes Fahren eingezogen sind. Tatsächlich ist das Gelände insbesondere für Firmen, die zu neuen Mobilitätslösungen forschen, sehr interessant, da sich die großen, befestigten Freiflächen bestens für Simulationen und Tests eignen. Neben ersten Unternehmen und Start-ups aus diesem Bereich haben auch schon die ersten Institute der Berliner Hochschule für Technik Tuchfühlung aufgenommen. In einem Bereich wird etwa zum 3D-Druck in Holz geforscht – hier möchten wir eng zusammenarbeiten und gemeinsam eine Fassade entwickeln. Sie merken es schon: Bereits die ersten Akteure, die sich in der Urban Tech Republic niederlassen, passen in unser Profil der nachhaltigen Technologien.

Im Schumacher Quartier entsteht Wohnraum für 10.000 Menschen. Wie garantieren Sie, dass dort eine heterogene Bewohnerinnen- und Bewohnerstruktur entsteht?

Darauf wurde von Beginn der Planung an viel Wert gelegt. Es bauen zu 50% die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften und zu 50% Baugenossenschaften sowie Baugruppen. Im gesamten Quartier kommen keine renditeorientierten Player zum Zuge. Darüber hinaus vergeben wir alle Grundstücke über das Erbbaurecht, was uns auch elementare Spielräume – etwa im Bereich der Energieversorgung – verschafft. Das gesamte Quartier wird durch ein autarkes Niedrigtemperaturnetz auf Basis grüner Energien versorgt werden.

Wird mit dieser Herangehensweise ein Fehler der Vergangenheit, in der Kommunen aus Haushaltsnotlagen heraus Bodeneigentum verkauften, in gewisser Weise wieder gut gemacht?

Es ist nicht nur ein wichtiger Schritt in die Zukunft, sondern schlussendlich auch unsere einzige Möglichkeit, um zum Beispiel integrierte ökologische Quartierskonzepte umzusetzen und als Stadt darauf noch Einfluss haben zu können. Sobald wir anfangen würden, einzelne Grundstücke zu verkaufen, hätten wir keine einheitlichen Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten mehr. Insofern erachte ich das Erbbaurecht als ein ganz wesentliches Instrument auf dem Weg zu einem ökologischen und sozialen Quartier mit Vorbildcharakter. Es braucht Projekte wie Berlin TXL, um aufzuzeigen, wie wir dem Klimawandel zukünftig begegnen können und auch müssen. Sowohl international als auch in allen Legislaturperioden ist das Projekt auf große Zustimmung gestoßen und ich bin zuversichtlich, dass wir unsere Pläne mit den entsprechenden Prozessen auch weitestgehend umgesetzt bekommen. Und auch, wenn jetzt die Baukosten steigen und Stimmen laut werden, die das Projekt als zu ambitioniert anzweifeln, werden wir uns nicht beirren lassen und mit dem Verkauf einzelnen Grundstücke beginnen. Das wäre fatal. Darüber hinaus denken wir in Abschnitten, was in einer dynamischen, schnelllebigen Welt sicherlich von Vorteil ist. Sobald der erste Bauabschnitt abgeschlossen ist, werden wir reflektieren, was im Prozess und in technischer Hinsicht gut und weniger gut lief, um im zweiten Bauabschnitt entsprechend nachjustieren zu können. Ich bin davon überzeugt, dass in einem agilen Konzept auch gewisse Hürden überwunden werden können.

Um das Konzept des sozialen und ökologischen Stadtquartiers zu realisieren, werden bei der Grundstücksvergabe im Schumacher Quartier über Konzeptvergabe gemeinwohlorientierte Akteure gesucht. Wieso ist das der richtige Weg und wie wird das ablaufen?

© Tegel Projekt GmbH, Atelier Loidl

Wenn Sie ein Stadtquartier dieser Größe bauen, ist der Schlüssel zum Erfolg, dass sich die Menschen dort wohlfühlen. Entsprechend ist es unsere Aufgabe, Player zu finden, die sich für das Quartier engagieren möchten und nicht nur im Sinne des Profits handeln. Aus diesem Grund schaffen wir u. a. auch Aneignungsflächen, die die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers nach ihrem Belieben bespielen können. Die Konzeptvergabe ist insofern ein geeignetes Mittel, da Planung und Nutzung dabei von Anfang an zusammen gedacht werden. Auf diese Weise entsteht die besondere Lebendigkeit eines Quartiers. Tübingen, wo ganze Stadtquartiere über die Konzeptvergabe entwickelt wurden, dient uns hier in gewisser Weise als Vorbild. Insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass wir in unserem Quartiersbuch gestalterische Leitlinien vorgeben – beispielsweise die Holzbauweise –, ist es wichtig, die Nutzerinnen und Nutzer gleich von Anfang an in der Planung zu Wort kommen zu lassen. Ende Juni fand eine Informationsveranstaltung statt und im September starten die ersten Verfahren im Dialog. Wir sind sehr gespannt auf die Ergebnisse!

Inwieweit wird mit der Entwicklung des Schumacher Quartiers auch das Konzept der 15-Minuten-Stadt verwirklicht?

Das Mobilitätskonzept wurde ganz im Sinne der 15-Minuten- Stadt geplant. An den Quartiersrändern wird es Mobility-Hubs geben, an denen Autos geparkt werden können. In erster Linie ist aber natürlich die Nutzung des ÖPNV gewünscht, und die Wege sind für Radfahrende und Zufußgehende optimiert. Das Quartier wird an das vorhandene Bus- und U-Bahn-Netz angeschlossen und eine eigene Straßenbahn-Anbindung erhalten. Zudem werden in den Mobility-Hubs auch Lastenfahrräder und weitere kleinteilige Fortbewegungsmittel zur Verfügung stehen, um die Last-Mile bewältigen zu können. Es wird Fahrradwege für hohe und niedrige Geschwindigkeiten geben. Insgesamt wird es ein sehr durchdachtes System sein, sowohl was die Mobilität im Quartier anbetrifft als auch die Anbindung an die umgebende Stadt. Tegel ist ein idealer Ort dafür: Innerhalb von 10 bis 15 Minuten ist man am Kurfürstendamm und hat zugleich mit dem Tegeler See, dem Flughafensee und einem großen Wald ein tolles Naherholungsangebot direkt vor der Türe.

Zudem integrieren wir einen großen Bildungscampus nach dem Wolfsburger-Modell in das neue Stadtquartier. Von der Kita bis zur weiterführenden Schule und attraktiven Sportangeboten ergibt sich ein regelrechtes Multifunktionsgelände. Räumlichkeiten werden nach Schulschluss nicht leer stehen, sondern lassen sich in den Abendstunden flexibel beispielsweise von Vereinen weiternutzen. Den Bildungscampus, der als Wettbewerb ausgeschrieben wird, betreut die HOWOGE, eine städtische Wohnungsbaugesellschaft.

Welches Feedback erreicht Sie aus dem unmittelbaren Umfeld zu dem Konzept für Tegel?

Während das Projekt international bereits für viel Aufsehen gesorgt und auch eine sehr positive Resonanz erfahren hat, ist man in Berlin selbst noch vergleichsweise zurückhaltend. Die Erfahrungen mit öffentlichen Großprojekten waren zuletzt ja nicht die besten, deshalb müssen wir beweisen, dass wir nicht nur Großes planen, sondern auch verlässlich umsetzen können. Wir arbeiten dafür mit den Senatsverwaltungen, aber auch mit dem Bezirk Reinickendorf eng zusammen, wo die Freude über das neue Wohnquartier und den Innovationspark groß ist, da beides den Nordwesten Berlins enorm voranbringen wird. Ein sehr direktes Feedback bekommen wir auch bei unseren Führungen und Präsentationen, die wir seit letztem August vor Ort durchführen. Auf diese Weise hatten wir bereits mit mehreren tausend Menschen direkten Kontakt. Die meisten bekommen große Augen und sind beeindruckt von unseren Plänen. Es scheint, als bedienen wir die Sehnsüchte vieler Menschen nach einer besseren, weil lebenswerteren Stadt. Dieser Zuspruch ist für uns ein guter Indikator, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Was sind denn Ihre Sehnsüchte für das restliche Jahr 2022? Was möchten Sie gerne auf den Weg gebracht haben?

Ich würde mich persönlich sehr freuen, in diesem Jahr den regionalen Wirtschaftskreislauf für den Holzbau finalisieren können. Ein weiterer großer Erfolg wäre es, dass wir mit Blick auf die verkehrliche Anbindung vorankommen. Das sind meine beiden Sehnsüchte für 2022.

Vielen Dank für den spannenden Einblick in das Projekt.

 


Gudrun Sack

ist Geschäftsführerin der Tegel Projekt GmbH in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der TU Berlin und an der HfAK Wien startete sie ihre berufliche Laufbahn bei Norman Foster in London. Vor ihrer akademischen Ausbildung hatte sie bereits eine Lehre als Restauratorin absolviert. Nach einer Zwischenstation bei Alsop Störmer Architekten in Hamburg arbeitete sie als wissenschaftliche Assistentin im Fachbereich Architektur der Universität der Künste Berlin. Mehr als 20 Jahre war Gudrun Sack Partnerin bei NÄGELIARCHITEKTEN. Sie war u. a. Vorstandsmitglied der Architektenkammer Berlin sowie des Netzwerks Berliner Baugruppen Architekten und ist Mitglied im Arbeitskreis Wohnungsbau beim BDA – Bund Deutscher Architektinnen und Architekten.

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