STEFAN RETHFELD: LÄNDLICHE URBANITÄT

© Foelting

Den Begriff Baukultur assoziieren viele Menschen zunächst mit den dichter bebauten Metropolräumen. Dabei weisen insbesondere ländliche Räume dahingehend auch eine besondere Vielschichtigkeit auf. Wie sehen Sie als LWL das Thema Baukultur im ländlichen Raum?

Baukultur kann es überall geben. Überall, wo der Mensch baut. Es ist ja gerade der faszinierende Gedanke dieses Kulturbegriffs, dass er allgemein das Wirken des Menschen in seiner natürlichen oder gebauten Umwelt beschreibt. In der Fachwelt wurde der Begriff „Baukultur“ durch verschiedene Initiativen zum Ende der 1990er Jahre wiederentdeckt, im Jahr 2007 sogar die Bundesstiftung Baukultur gegründet, um angesichts der Komplexität heutiger Entwicklungen von Stadt, Land und Natur das Bewusstsein zu schärfen – für alles Gebaute und für die Prozesse dahinter. Ob in Großstädten, in Klein- und Mittelstädten oder auf dem Land. Westfalen mit seinen 8,3 Mio. Einwohnern, überraschenderweise fast so groß wie die Schweiz, verfügt natürlich über eine Menge unterschiedlicher Orte: vom hochverdichteten Herne bis zum ländlichen Höxter. Auch das heutige Münsterland mit seinen 1,6 Mio. Einwohnern zeichnet sich durch eine besondere Raumstruktur aus. Neben Münster als Großstadt verteilen sich eine Vielzahl von Klein- und Mittelstädten sowie viele Einzelorte in einer noch oftmals weiten Parklandschaft. Zu beobachten ist derzeit auch eine neue „Landlust“. Immer mehr kleine Orte werden für ein flexibleres Leben und Arbeiten entdeckt.

Wie würden Sie denn die Baukultur oder auch die Baudenkmäler, die das Münsterland ausmachen, zusammenfassen? Ich denke da vor allem an Höfe, an Scheunen.

Zunächst sind es tatsächlich viele Bauernhöfe mit ihren teilweise jahrhundertealten Biographien, erkennbar häufig heute noch an alten Speichern. Eine Besonderheit spielten Burgen und Schlösser, die bis heute Jahrhunderte erzählen können. Dann gibt es viele Klöster und Kirchen in den Ortskernen. Dort treffen frühe Wohn- und Geschäftshäuser entlang von Marktstraßen oftmals auf repräsentative Bauten wie Rathäuser und Kulturbauten. Mit der Industrialisierung folgte der planmäßige Ausbau vieler Orte, häufig begleitet von Siedlungen. Kriegsbedingt machen vielerorts aber heutzutage die Bauten der 1950er und 1960er Jahre den größten Anteil aus. Das Münsterland ist daher auch eine wichtige Region der Nachkriegsmoderne. Das Münsterland? Ein vielschichtiges Panorama!

Ihre Aufgabe ist die Vermittlung der Baukultur. Welche Resonanz erfahren Sie dabei?

Räume prägen Menschen, Menschen prägen Räume: Wie werden wir in Zukunft leben und Arbeiten? // © Schnoklake Betz Dömer Architekten / VIR.Works

In unserem Fachamt der LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen kommen verschiedene Kompetenzen zusammen. Zum einen die Denkmalpflege, die sich seit 1888 mit Inventarisation, Restaurierung und praktischer Denkmalpflege beschäftigt, zum anderen die Landschaftskultur und nicht zuletzt die Baukultur. Letztere erscheint mir als Denkform sehr geeignet, auch hochaktuelle übergreifende Fragen zu stellen. Wie müssen wir auf den Klimawandel reagieren? Wie sieht eine Stadt von übermorgen aus? Wie zeitgenössische Architektur? Wie entwickeln sich Wohn- und Arbeitsformen?

Viele Jahre hat sich unser Amt mit seinen Veranstaltungen stark an eine Fachöffentlichkeit gewandt. Um das Bewusstsein auch in der Allgemeinheit zu schärfen – denn Baukultur braucht viele Ermöglicher – werden wir uns künftig verstärkt auch einer breiteren Öffentlichkeit widmen. Sämtliche Veranstaltungen wie Symposien, Vortragsreihen oder Exkursionen sind heute schon stark nachgefragt. Wir werden daher noch zusätzliche mediale Wege suchen.

Baukultur wird von vielen, ob jung oder alt, immer mehr als Thema entdeckt. Ganz gleich welches Veranstaltungsformat, eins eint sie alle: Es geht immer um Bewusstseinsbildung. Darum, den Blick für den eigenen Ort zu schärfen und sich mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gleichermaßen auseinanderzusetzen. Dieser dreifache Blick ist uns sehr wichtig. Selbst Menschen, die seit langer Zeit in ihrer Heimat wohnen, können auf diese Weise ihren Ort noch einmal anders wahrnehmen und wertschätzen.

Die neue Lust am Landleben haben Sie eingangs bereits erwähnt. Inwieweit entsteht dadurch auch ein neues Interesse an Baukultur im ländlichen Raum?

In Berlin, wo ich länger gelebt habe, kennt man den schönen Ausdruck jwd – janz weit draußen. Mittlerweile wird es übersetzt mit: jeder will dahin. Nicht nur Metropolen, auch sogenannte Regiopolen wie Münster kennen das Phänomen der Aufwertung des Umlandes. In Münster ist es wie sonst nirgends in Deutschland sogar wortwörtlich zu sehen: Münster und Münsterland. Stadt und Land – Hand in Hand. Wie es ja auch überliefert ist. Beide benötigen einander, nicht nur auf dem Wochenmarkt.

Der Land-Trend ist eine große Chance, da er häufig mit einer jüngeren Generation einhergeht, die eine gewisse Offenheit mitbringt für einen geschichtsträchtigen Ort, für ein Weiterbauen von Architektur. Einen historischen Ort als Zuhause zu wählen, ist ein wichtiger Moment in der eigenen Biographie: Wie zeitgenössisch, ökologisch, sozial baue ich? Einen solchen Ort gibt es quasi nicht schlüsselfertig. Vieles entwickelt sich erst im Prozess.

Inwieweit besteht Ihrerseits die Befürchtung, dass die regionale Baukultur durch Verfall, Abriss, Neubau oder Überformung in Vergessenheit geraten könnte?

Regionale Baukultur hat sich oftmals über Jahrhunderte entwickelt und prägt Orte, Regionen, ganze Landschaften durch Haustypologien, Konstruktionen oder Materialien. Dies ist erstmal ein Schatz, mit dem man auch heute arbeiten kann, sowohl durch Pflege als auch durch Weiterentwicklung. Häufig wird dies jedoch nicht herausgearbeitet. Ebenso sollte der Stadtgrundriss mit seinen Parzellierungen und alten Überschreibungen eine wichtige Bezugsgröße darstellen. Wer diesen studiert und interpretiert, kann zumeist einen großen kulturellen Mehrwert erreichen.

Das Weiterbauen eines Ortes bietet grundsätzlich viel Potenzial – ob auf Ebene des Stadtraums oder des Bauwerks. Im besten Sinne resultiert daraus Architektur im Kontext – wie auch eine langjährige Vortragsreihe bei uns heißt. Es können dadurch einzigartige Räume entstehen, die kaum zu erfinden sind. Grundsätzlich sollte jeder Abriss daher mehrfach geprüft werden. Auch wenn ein Gebäude nicht unter Denkmalschutz steht, kann es für ein Ortsbild prägend sein – und sollte erhalten werden. Auch im Sinne des Klimaschutzes, denn für jedes Bauwerk wurden bereits Energien aufgewendet. Für die Ortssuche und den Entwurfsprozess sollte man sich daher Zeit nehmen. Räume prägen Menschen, Menschen prägen Räume.

Das Münsterland wird abseits davon durchaus auch geprägt von zum Teil sehr modernen Landmarken, die positive Beispiele zeitgenössischer Architektur bilden. Ist hier in den letzten Jahren eine neue Baukultur entstanden?

Das Münsterland hat eine Reihe von bemerkenswerten Neubauten zu bieten, zuletzt überraschte das kult als kulturhistorisches Zentrum in Vreden mit einem gelungenen Bau.

Neben neuen Kulturgebäuden denke ich auch an viele neue Schulen und Pfarrzentren, moderne Wohnbauten und Büroprojekte. Doch besonders verdienstvoll finde ich Orte der Umwidmung wie umgebaute Kirchen, Banken oder Bunker. Hier sehe ich noch ein großes Potenzial auch für weitere Kasernen, Fabriken, Kaufhäuser oder Werkstätten. Schon lange kann Neues heutzutage vor allem durch Umwidmung entstehen.

Die Baukultur im Münsterland ist ‒ schon alleine durch die das Raumbild prägenden Höfe und Einfamilienhäuser ‒ vergleichsweise flächenintensiv. Inwieweit lässt sich dies insbesondere in Bezug auf Wohnen noch rechtfertigen?

Warum nicht so: Altes Tischlereigelände in Telgte ‒ ein Projektbeispiel des LWL-Baukultursymposiums Ländliche Urbanität. // © Schnoklake Betz Dömer Architekten / VIR.Works

Das enorme Raumangebot ist natürlich verführerisch für das Ausweisen von neuen Flächen oder auch von Verkehrsprojekten. Doch ein Umdenken setzt immer mehr ein. In der Baukultur sprechen wir sogar von einer radikalen Bauwende. Das bedeutet, wir müssen künftig auf den konventionellen Neubau verzichten und uns auf den Bestand beschränken und diesen wertschätzen. Das gilt in kleineren und mittleren Orten ebenso wie in Großstädten.

Das Ziel für die kleineren Orte müsste hierbei eine Art „Ländliche Urbanität“ sein. Aktuell laden wir gerade zu einem entsprechenden Baukultursymposium ein. Um den vielen Einfamilienhaussiedlungen etwas entgegenzusetzen, wollen wir auf musterhaft verdichtete Wohnprojekte in Klein- und Mittelstädte blicken, die in naher Zukunft in Westfalen umgesetzt werden – und hier Qualitäten wie Hemmnisse erörtern.

Um das Münsterland gleichwertiger zu entwickeln, erscheint mir die alte Idee einer S-Bahn durch das Münsterland auch heute noch sinnvoll. Stillgelegte Gleise sollten wieder aktiviert werden. Dann könnte man sogar so weit gehen, von einer „Münsterlandstadt“ zu sprechen. In diesem neuen Netzplan könnten viele Punkte strategisch und überregional angelegt werden.

Was wünschen Sie sich zukünftig mit Blick auf das Thema Baukultur im Münsterland?

Baukultur ist eines der wichtigsten Themen auch für eine zukünftige Gesellschaft. Mit ihr entscheidet sich, wie identitäts- und sinnstiftend Orte sein können und wie zugehörig sich Menschen fühlen. Es muss darum gehen, dass Orte in unserer schnelllebigen Zeit ein Angebot zur Vertiefung und biographischen Einbettung machen. Wie liegt das Münsterland in Europa? Welche Orte sind mehrere Jahrhunderte alt? Welche Vorstellungen haben die Bürgerinnen und Bürger von ihrer zukünftigen Stadt? Je mehr uns die Dimensionen einer Ortsgeschichte bewusst sind, desto wertvoller kann ihre Weiterentwicklung gelingen. Baukultur kann es überall geben – gerade auch hier im Münsterland.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

 

Mehr zur LWL Baukultur finden Sie unter www.lwl-baukultur.de


 

Stefan Rethfeld

studierte Architektur in Berlin und Wien und arbeitete in verschiedenen Büros in der Schweiz, bevor er sich als freier Architekt und Journalist mit den Schwerpunkten Architekturforschung, Projektentwicklung und Architekturvermittlung in Berlin und Münster selbstständig machte. Stefan Rethfeld initiierte, konzipierte und realisierte bereits zahlreiche Kultur-, Forschungs- und Bauprojekte. Seit 2021 ist er als wissenschaftlicher Referent und Leiter des Sachbereichs Vermittlung und Baukultur bei der LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen tätig.

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