VERZERRTE REALITÄT VON ALEX CHINNECK

© Alex Chinneck: A sprinkle of night and a spoonful of light. Photography by Marc Wilmot

Es lässt sich beinahe von Glück sprechen, dass der talentierte Cricket-Spieler Alex Chinneck den Sport nicht schlussendlich doch zu seiner beruflichen Profession gemacht hat, kam ihm doch als Jugendlicher die Liebe zur Kunst in die Quere.

© Alex Chinneck: Telling the truth through false teeth. Image by Stephen O’Flaherty

Nach dem Studium der Malerei am Chelsea College of Arts ist er heute als Bildhauer fester Bestandteil der aufstrebenden Londoner Kunstszene und fasziniert die breite Masse mit seinen überdimensionalen Kunstwerken, die, oftmals nur temporär, den öffentlichen Raum zu einer ganz besonderen Bühne werden lassen. Seine Werke bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Illusion und Realität und verändern die Wahrnehmung des alltäglichen, urbanen Raums, zum Teil auf durchaus subtile Weise. Eines seiner ersten öffentlichen Kunstwerke inszenierte er 2012 im Londoner Stadtteil Hackney unter dem Titel Telling the Truth Through False Teeth, indem er die 312 Fensterscheiben eines alten Fabrikgebäudes durch identische, aber zerbrochene Fensterscheiben ersetzte. Ein Kunstwerk das dem Betrachtenden nicht auf den ersten Blick als solches auffällt, wohl aber beim näheren Hinschauen für ein Innehalten sorgt.

© Alex Chinneck: From the knees of my nose to the belly of my toes. Image by Stephen O’Flaherty

Etwas offensichtlicher hingegen das im Folgejahr veröffentliche Werk From the Knees of my Nose to the Belly of my Toes in der Küstenstadt Margate, im Zuge dessen Chinneck die Fassade eines Hauses schlichtweg in den Vorgarten rutschen ließ. Etwas prominenter, im zentralen Londoner Bezirk Covent Garden verortet, versetzte er 2014 die Betrachter mit der Nachbildung einer 184 Jahre alten Markthalle, die sich von ihrem eigenen steinernen Fundament zu lösen und zehn Meter über dem Boden zu schweben scheint, in Staunen. Durch die detailgetreue Nachbildung des zwölf Meter langen historischen Gebäudes fügte sich dieses Werk harmonisch in den bestehenden urbanen Kontext ein und Chinneck gelang es einen alltäglichen, stark frequentierten Ort mitten in London in einen Ort des Staunens und Überraschens zu transformieren.

Der Meister der architektonischen Illusionen, wie er oftmals betitelt wird, ermöglicht den Menschen mit seiner außergewöhnlichen Kunst eine Pause von den tagtäglichen Herausforderungen: Kunst als Realitätsflucht sozusagen. Als Besonderheit ist dabei die Zugänglichkeit dieser ungewöhnlichen Kunst hervorzuheben, die niemanden ausschließt, sondern viel mehr – eine ganze Stadtgesellschaft in ihren Bann zieht. Sie belebt den Ort, regt zum Träumen an, ist Zündstoff für Diskussionen. Vor allem aber führen Chinnecks Kunstwerke und Installationen dazu, dass Menschen sich mit einem Ort auf eine neue Art und Weise auseinandersetzen und ihn neu kennenlernen.

Diesen positiven Effekt haben zunehmend auch Projektentwickler beziehungsweise Bauherren für sich erkannt, die Chinneck sozusagen mit dem ersten Placemaking beauftragen.

© Alex Chinneck: Take my lightning but don’t steal my thunder. Image by Chris Tubbs

Spätere Bauprojekte erlangen eine höhere Akzeptanz seitens der Nachbarschaft, wenn der Ort bereits im Vorfeld temporär auf spannende Art und Weise in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt wurde. Dabei erweist sich Chinnecks Kunst auch für die Baubranche als hilfreich. Dabei übte er grade an dieser – oder viel mehr an dem überhitzten Immobilienmarkt Londons – einst mit einer spektakulären Installation durchaus harsche Kritik: Mit dem Kunstwerk A Pound of Flesh for 50p schuf er mitten in London ein zweistöckiges Haus aus 8.000 Wachssteinen, das mit Hilfe einer Heizungsanlage ganz langsam schmolz.

Einige von Chinnecks Installationen werden in einem derart großen Maßstab realisiert, dass er zum Teil ein Team von rund 150 Mitarbeitern hinter sich stehen hat. Zwischen sechs Monaten und mehreren Jahren kann der Prozess von der Konzeption bis zur finalen Umsetzung der Installationen andauern, die dann zum Teil nur von kurzer Dauer sind. Doch grade diese Flüchtigkeit macht die realen Täuschungen so besonders.

 


Bilder im Slider: © Alex Chinneck / Photography by Marc Wilmot

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