BJÖRN VEDDER: LIQUID CITIES

© Jens Schwarz

Städte waren einst Orte, an denen sich Menschen zusammenfanden, um sich vor äußeren Gefahren zu schützen. Deshalb waren viele Städte von Mauern oder Zäunen umgeben. Sie markierten die Grenze zwischen denen, die drinnen lebten, und denen, die draußen lebten, zwischen der Ordnung und der Wildnis. Das Zusammenleben innerhalb der Schutzgemeinschaft Stadt verpflichtete die Bürger zum Gehorsam gegenüber den Gesetzen und zur Loyalität untereinander.

Inzwischen haben sich die äußeren Stadtmauern aufgelöst und neue gebildet – meistens sind sie nicht aus Stein. Zu diesen Mauern gehören die sozialen Enklaven, sogenannte „communities“ in denen sich Menschen mit einem bestimmten Einkommen zusammenfinden und gegen ärmere Bevölkerungsschichten abschotten. In manchen Großstädten breitet sich die Gentrifizierung der Stadtviertel so weit aus, dass sich eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ein Leben in der Stadt überhaupt nicht mehr leisten kann, sondern in das Umland verbannt wird. Es entsteht ein moderner Pendelverkehr in die Stadt, um ihre Bewohnerinnen und Bewohner mit Diensten zu versorgen. Die Herren leben in der Stadt, die Knechte draußen. Gegen diese sozialen Ausschluss- bzw. Trennungsbewegungen gibt es seitens der Städte keine oder nur unzureichende Gegenmaßnahmen. Jeder einzelne muss sich nach Maßgabe seiner eigenen Kraft seinen Platz im städtischen Gefüge selbst erkämpfen.

Mithin spiegeln die Städte den allgemeinen Verlust an existenziellen Sicherheiten und Solidarität wider, den der britische Soziologe Zygmunt Baumann als Verflüssigung der Gesellschaft bezeichnet: Jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich. Da er jedoch glo- balen und abstrakten Kräften ausgesetzt ist, wird seine Existenz von Risiken bedroht, die er selbst nicht kontrollieren kann. Dieses Gefühl einer existenziellen und zugleich nicht handhabbaren Verunsicherung ist neu. Es breitet sich aus, löst Loyalitäten auf und lässt jeden vereinzelt zurück. Das verändert auch die Städte.

Eine Antwort auf diesen Transformationsprozess ist das verstärkte Bemühen um persönliche Sicherheit, welches zu einem Ersatzziel geworden ist. Wo die Existenz des Einzelnen nicht mehr sicher ist, sollen es wenigstens die Häuser und Straßen sein. Dazu werden Kameras, Sicherheitsdienste oder Polizeistreifen eingesetzt und der städtische Raum wird geteilt. Während sich die Gemeinschaft auflöst, verhärten sich die Körper, schließen sich ab. Das lässt sich in Architektur und Stadtplanung beobachten. Häuser werden zu Festungen, Plätze werden so angelegt, dass sich Menschen dort möglichst nicht aufhalten: keine Sitzgelegenheiten, Sprinkler an den Wänden, abgeschrägte Fenstersimse halten die Besucher fern, Überwachungssysteme und Patrouillen verbreiten eine nervöse Stimmung. Der Architekturtheoretiker Steven Flutsy spricht in diesem Sinne von „verbotenen Räumen“, deren Ziel es sei, den städtische Raum zu zerteilen und Verbindungen zwischen den einzelnen Segmenten zu verhindern. Auch die in Wohnvierteln beliebte Sackgasse ließe sich darunter zählen, weil sie nur denjenigen eine sinnvolle Benutzung ermöglicht, die in ihr wohnen. Alle anderen müssen wieder umkehren oder werden schon am Eingang ermahnt, gar nicht erst einzutreten. So werden der Zerfall der Gemeinschaft und die Auflösung von Loyalitäten von der Stadtplanung mitbetrieben.

Diesem Befund mögen die vielen Sympathiebekundungen widersprechen, die Menschen heute gegenüber ihren Städten und Vierteln aussprechen. Man ist gerne Hamburger, Schwabingerin oder New Yorker. Allerdings nur auf den ersten Blick, denn was sich hier kundtut, ist nur ein Aspekt der Ästhetisierung des eigenen Lebens. Menschen bilden ihre Identität, indem sie bestimmte kulturelle Inhalte für sich auswählen und zu einem Selbstentwurf verbinden, wie etwa Andreas Reckwitz unter dem Stichwort „Gesellschaft der Singularitäten“ gezeigt hat. Hierzu gehört auch das Image bestimmter Städte oder Wohnlagen, das gerne übernommen wird. Dabei geht es jedoch stets nur darum, was die Stadt für diesen Menschen (respektive seinen Selbstentwurf) tun kann, und nicht darum, was dieser Mensch für die Stadt tun kann. Gerade der letztere Aspekt müsste jedoch vorliegen, damit (frei nach John F. Kennedy) von Loyalität gesprochen werden könnte.

 


Dr. phil. Björn Vedder

ist Publizist. Seine Arbeiten befassen sich mit zeitgenössischer Kunst, Gesellschaftstheorie und Philosophie. Zuletzt erschienen „Reicher Pöbel. Über die Monster des Kapitalismus“ (2018), „Väter der Zukunft. Ein philosophischer Essay“ (2020) und „Highway to the Dangerzone“ (in: „Zone Dangereuse.“ Claudia Comte, FORT, Katharina Grosse, Gregor Hildebrandt, Leiko Ikemura, Anselm Reyle, Thomas Zitzwitz) (2020).

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