
© Magnum Photos
Im digitalen Zeitalter werden wir täglich von einer gewaltigen Bilderflut überschwemmt. Ob auf Computer, Tablet oder Smartphone – auf sämtlichen Endgeräten begegnen uns visuelle Reize – beim Internet-Surfen oder Checken der Social-Media-Kanäle. Genau diese Flut an Bildern und die Macht, die ihr innewohnt, bezeichnet der britische Dokumentarfotograf Martin Parr als „Propaganda“. Er stellt sich ihr mit Kritik, Verführung und einer guten Portion Humor entgegen. Das Ergebnis sind einzigartige Fotos, die auf eindrucksvolle Weise zeigen, wie wir leben, uns gegenüber anderen präsentieren und was wir schätzen. Das Betrachten seiner Bilder gleicht dem Blick in den Spiegel – und der ist bekanntlich nicht immer gut…
Um seine Motive einzufangen, reist der Brite rund um die Welt und erforscht seit mehreren Jahrzehnten die Dimensionen von Freiheit, Konsum und Kommunikation. Dabei untersucht er, inwieweit nationale Eigenheiten sowie internationale Phänomene die kulturellen Besonderheiten unserer Gesellschaft für nachfolgende Generationen verständlich machen. Infolgedessen eröffnet er den Betrachtenden neue Perspektiven auf bereits bekannte Dinge: Motive wie das English Breakfast, das Gedränge in der Pommesbude, unsere ausgefallenen Strategien zum Sonnenbaden oder unser typisches Touri-Verhalten hält Parr in seinen Bildern fest und uns ungeschont als Spiegel vor die Nase. Parr selbst beschreibt seine Fotos als Spiegelbild der Welt, wie er sie sieht, „mit all ihren Widersprüchen“ und hofft, dass die Betrachtenden seiner Fotografien dieselben Beobachtungen machen wie er: In Bildern Emotionen und Erzählungen erkennen.

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So porträtiert Parr auch sein Heimatland Großbritannien und die Briten auf eher unkonventionelle Weise. „Ich habe eine Hassliebe zu Großbritannien – das Land zu fotografieren ist wie eine Therapie für mich. Das ist für mich die ehrlichste Art, ein Land zu betrachten.“ Zweifelsohne kommen den Betrachtenden einige der Motive bekannt vor. Wir kennen sie wohl alle: Situationen, für die wir vorher akribisch überlegt und geplant haben, wie wir auftreten wollen oder welchen Eindruck wir bei unserem Gegenüber hinterlassen möchten. Die Sehnsucht danach, uns von unserer besten Seite zu zeigen – sei es beim Vorstellungsgespräch, einem Date, auf einer Party oder auf unseren Social-Media-Kanälen.
In anderen Situationen ist es uns hingegen schlichtweg egal, wie wir auf andere wirken oder wir sind ganz einfach erschöpft vom zunehmenden Schönheitswahn und wollen einfach „nur“ wir selbst sein. Auch genau diese Momente sind es, die Parr in seinen Fotografien festhält. Er zeigt: Erst unsere Eigenheiten, Schrullen und Neurosen, unsere vermeintlichen Makel, verleihen uns unsere Identität; machen uns zu dem, was wir sind – perfekt unperfekt. Und dabei lässt sich eines (glücklicherweise) nicht leugnen: Obwohl wir alle auf unsere Art und Weise unterschiedlich sind, ähneln wir uns in unserem Verhalten – und das vielleicht sogar öfter als wir zugeben wollen.

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Parr, der 1952 in Epsom geboren wurde, interessierte sich bereits als Teenager für die Fotografie. Eine Leidenschaft, die schon sein Großvater, seines Zeichens selbst begeisterter Amateurfotograf, förderte. Bereits vor seinem Fotografiestudium, das er zwischen 1970 und 1973 an der Manchester Polytechnic absolvierte, kam er mit den Werken großer Fotografen wie Bill Brandt und Cartier Bresson in Berührung. Nachhaltig inspirierten ihn schließlich während seiner Studienzeit die Werke von Tony Ray-Jones.
Nach seiner Vorliebe für Schwarz-Weiß-Fotografie wechselte er 1982 zur Farbfotografie: Grelle Farben sowie ungewöhnliche Motive und Perspektiven standen fortan im Mittelpunkt. Auch wenn ihn bereits in den 70er Jahren die gesättigte Farbwahl von John Hindes Postkarten faszinierte, waren es letztlich US-amerikanische Fotografen wie Joel Meyerowitz, William Eggleston und Stephen Shore, die in ihm die Leidenschaft für die Farbfotografie weckten.

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Doch nicht nur die Motive und Farbgestaltung seiner Fotos zeichnen seine Arbeit aus. Mit seinem integrativen Ansatz – seine Fotos in die verschiedenen Kontexte der Kunstfotografie, Ausstellungen und Kunstbücher zu stellen und auch in der Werbung und Journalismus zu veröffentlichen – gelingt ihm die Überwindung der traditionellen Trennung zwischen den verschiedenen Arten von Fotografie. Längst inspirieren sein Stil und seine Themenwahl auch jüngere Generationen von Fotografen und Fotografinnen.
Bei all den gestellten und akribisch geplanten Fotos auf Instagram & Co. bietet Parr mit seinen Momentaufnahmen einen erfrischend ehrlichen Blick auf unsere Gesellschaft und ihre Individuen, wie sie wirklich sind: Menschen in freier Wildbahn. Eine Prise Humor schadet daher beim Betrachten seiner Werke sicher nicht.
Weitere Informationen zum Künstler und seiner Arbeit finden Sie unter www.martinparr.com
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