PHILIPP HÜBL: DIE WAHRHEIT ÜBER WAHRHEIT

© Juliane Marie Schreiber

Seit einiger Zeit diskutieren wir über Populisten, Querdenkerinnen und andere Feinde der Wissenschaft, die Fake News, Verschwörungstheorien und pseudowissenschaftlichen Unfug verbreiten. Offenbar ist ihnen ihre Ideologie wichtiger als die Fakten. Kurz: Sie leugnen die Wahrheit. Ironischerweise predigen jedoch viele Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen seit Jahrzehnten, dass es gar keine Wahrheit gebe, einige behaupten sogar, dass die Realität bloß eine Konstruktion sei.

Das sind große Worte, gelassen ausgesprochen. Und sie führen in ein Dilemma: Da Wissenschaft systematische Wahrheitssuche ist, kann man nicht gleichzeitig anderen Wissenschaftsfeindlichkeit vorwerfen und selbst an der Existenz von Wahrheit zweifeln.
Dieses Dilemma lässt sich aus philosophischer Sicht leicht auflösen, denn nirgendwo offenbaren sich so viele Irrtümer wie in der alltäglichen Rede über Wahrheit. Typischerweise verwechseln die Leute Wahrheit mit Wissen, und sie meinen, sie seien besonders kritisch, wenn sie die Existenz von Wahrheit leugnen. Dabei merken sie nicht, dass sie das, was sie kritisieren, selbst schon voraussetzen.

Fangen wir bei den Fundamenten an. Eine absolute Wahrheit aus dem Leben eines Philosophieprofessors lautet: Im Einführungsseminar sitzt immer eine, die sagt „Es gibt keine Wahrheit.“ Meist reicht eine kleine Diskussionsrunde, um diese steile These als Unfug zu entlarven, denn die Behauptung führt zu einem Paradox, wenn man sie auf sich selbst anwendet. Der Satz „Es gibt keine Wahrheit“ soll wahr sein, sagt aber, es gäbe keine wahren Sätze. Ein Widerspruch in sich.

Tatsächlich ist der Satz nicht nur selbstwidersprüchlich, sondern einfach falsch. Es gibt unzählige Gegenbeispiele, etwa „7+4=11“, „Berlin liegt nördlich von München“ oder „Speisesalz besteht hauptsächlich aus Natriumchlorid“. Das sind drei Wahrheiten. Weil aber viele Menschen bei „der Wahrheit“ an etwas Großes und Mysteriöses denken, das sich nur wenigen erschließt, spricht man in der Philosophie statt von „der Wahrheit“ lieber von „wahren Aussagen“.

Bei vielen Aussagen wissen wir nicht, ob sie wahr oder falsch sind, und manchmal irren wir uns. Insofern ist Wahrheit objektiv. Sie hängt nicht von unseren Einstellungen, unserer Perspektive oder dem Stand der Wissenschaft ab. Wenn die Chemie in ferner Zukunft herausfände, dass Salz eine ganz andere Molekülstruktur hat (was extrem unwahrscheinlich ist), wäre eben das Gegenteil wahr, also: „Speisesalz besteht nicht aus Natriumchlorid.“

Durch Verneinung wird jede falsche Aussage automatisch wahr, deshalb gibt es trivialerweise unendlich viele wahre Aussagen. Am einfachsten kann man das anhand von Mathematik verdeutlichen. Die Reihe „1+1=2“, „2+1=3“ kann man unendlich fortsetzen und erhält so unendlich viele Wahrheiten.

Bei Aussagen über die empirische Welt, die davon handeln, was im Universum, also in Raum und Zeit passiert, sieht es etwas anders aus. Die meisten empirischen Fakten kennen wir nicht, weil wir nicht wissen, was in den unendlichen Weiten des Weltalls vor sich geht. Aber Wahrheiten verschwinden nicht, nur weil wir nicht wissen, ob es welche sind.

Dass die Wahrheit einer Aussage nicht von uns abhängt, sieht man schon daran, dass sie besteht, selbst wenn noch nie jemand darüber nachgedacht hat. Entweder ist es wahr, dass Christopher Kolumbus am 3. Mai 1490 ein Glas Wein getrunken hat oder nicht. Mehr Möglichkeiten gibt es einfach nicht. Wir werden es vermutlich niemals herausfinden.

Die Frage ist dann aber eine andere, und zwar ob wir die Wahrheit kennen, genauer, ob wir „Wissen“ haben. Wissen zu haben heißt mindestens: eine Überzeugung zu haben, die wahr ist und für die man gute Gründe hat. Das hat schon Sokrates in Platons Dialog Theaitet festgestellt. Wissen setzt immer Wahrheit voraus, aber Wahrheiten bestehen unabhängig davon, ob sie gewusst werden.

Der Philosoph John Searle nennt die These, dass es keine Wahrheit gäbe, „Micky-Maus-Philosophie“. Aristoteles hat sich noch drastischer ausgedrückt: Wer behaupte, es gäbe keine Wahrheit, sei wie eine Pflanze, schreibt er in seiner Metaphysik-Schrift. Und das ist nicht als Kompliment gemeint. Aristoteles argumentiert so: Ohne Wahrheit könnten wir nicht einmal reden oder denken, denn um den Gedanken „Der Gärtner ist der Mörder“ als wahr oder falsch zu erkennen, müssen wir schon viele wahre Annahmen über Gärtner, Pflanzen, Mörder, Leben und Tod getroffen haben. Ohnehin, so Aristoteles sinngemäß, springen selbst eingefleischte Wahrheitsleugner nicht vom Wolkenkratzer, weil sie es augenscheinlich für wahr halten, dass das für sie tödlich endet.

Die Parole „Es gibt keine Wahrheit“ hat unterschiedliche Quellen. Gerade im progressiven akademischen Milieu entspringt sie oft einem antiautoritären Impuls, denn Diktatoren stellen ihre Werte oft als unbezweifelbare Wahrheiten dar und setzen sie brutal durch. Statt allerdings Menschenfeindlichkeit zu kritisieren, haben einige Kritikerinnen die Wahrheit selbst in Frage gestellt. So ehrenwert die Motivation dahinter sein mag – dieses Manöver verwechselt die Autorität der Wahrheit mit dem autoritären Verhalten von Leuten, die behaupten, sie seien im Besitz der Wahrheit.

Die Ironie daran ist: Wer Angst vor der Verabsolutierung von Werten hat, der hat sich selbst schon auf einen absoluten Wert festgelegt, nämlich, dass die Verabsolutierung von Moral etwas Schlechtes ist. Zumindest diese moralische Wahrheit scheinen die Kritiker also stillschweigend vorauszusetzen.

In der Ethik ist bis heute umstritten, ob es moralische Wahrheiten gibt. Im Alltag nehmen die meisten Menschen das allerdings an, oft ohne es zu merken. Schon wer die universellen Menschenrechte für verbindlich hält, unterstellt nämlich, dass es moralische Tatsachen gibt. Wir sagen nicht einfach: „In Moralistan schützt man Menschenleben, aber in Brutalien ist es halt in Ordnung, Menschen zum Spaß zu ermorden. Andere Länder, andere Sitten.“ Menschen zum Spaß zu töten ist niemals Verhandlungssache, sondern ein absolutes moralisches Verbot. Menschenrechte sind nicht bloß zufällige Konventionen, also austauschbare Verhaltensregeln wie das Autofahren auf der rechten oder linken Straßenseite, selbst wenn Politikwissenschaftler das manchmal suggerieren.

Eine zweite Motivation, die Existenz von Wahrheit zu leugnen, entspringt der Angst, naiv zu erscheinen. Doch diese Pose ist selbst naiv. Unser Wissen ist fallibel, denn jede einzelne unserer Überzeugungen könnte falsch sein. Doch daraus folgt nicht, dass alle zusammen falsch sein könnten und schon gar nicht, dass die Wahrheit selbst relativ ist oder nicht existiert. Auch wenn es auf den ersten Blick kritisch und liberal wirkt, ist es tatsächlich ziemlich egozentrisch zu glauben, Wahrheit hänge von der eigenen Anschauung ab.

Obwohl progressive Wahrheitsskeptiker und Verschwörungstheoretikerinnen an gegensätzlichen Polen des politischen Spektrums zu finden sind, gehen ihre Denkfehler auf denselben kognitiven Mechanismus zurück. Sobald es nämlich um unsere moralische Identität geht, also um unsere Werte und Normen, fällt es uns schwer, die Fakten zu erkennen. Die eigene Moral und die Gruppenzugehörigkeit sind uns dann wichtiger als die Wahrheit. Der einzige Ausweg aus diesem ideologischen Denken liegt daher in der Erkenntnis, dass wir fehlbare Wesen sind, die sich hin und wieder irren, also die Wahrheit verfehlen. Daher brauchen wir den Begriff der objektiven Wahrheit, denn sonst könnten wir gar nicht sagen, was Irrtum, Unfug, Lügen und Fake News sind.

 


PHILIPP HÜBL

ist Professor für Philosophie an der Universität der Künste Berlin und Autor der Bücher „Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken“ (2019) und „Bullshit-Resistenz“ (2018). Mehr Infos zu Philipp Hübl finden Sie unter www.philipphuebl.com.

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