
© Adjara Group
Wenngleich Georgien auf der Weltkarte nur einen winzigen Fleck ausmacht, ist die Geschichte des Landes an Komplexität kaum zu übertreffen. Flankiert von den Bergen des Kaukasus liegt das Geburtsland Stalins zwischen der Türkei, Armenien, Azerbaidschan und Russland und gehört damit zu Asien und Europa. Gerade die Zugehörigkeit zu Europa scheinen die zahlreichen EU-Flaggen betonen zu wollen, die primär an öffentlichen Gebäuden wehen. Vorbei sind die Zeiten der Sowjetunion – 70 Jahre, in denen Georgien bereits aufgrund seiner vielfältigen Landschaft und seiner abwechslungsreichen Küche als „das Urlaubsziel“ galt. Seit 1991 ebnet sich das Land seinen ganz eigenen Weg in die Moderne. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass die Hauptstadt Tbilisi einem bunten Teppich verschiedener politischer, kultureller, gesellschaftlicher und architektonischer Einflüsse gleicht. In der 1,5 Mio. Einwohner starken Metropole schmiegen sich historische Klöster an brutalistische sowie ultra-moderne Architekturkörper aus Glas und Stahl. Obgleich der Kontrast in anderen Metropolen als widersprüchlich empfunden würde, steht er in Tbilisi stellvertretend für eine neue Generation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Stadt mittels verschiedener Designformen neu zu strukturieren.

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Die Lust auf Veränderung und Erneuerung wird in Tbilisi an ganz unterschiedlichen Stellen sichtbar. Interessant: Überall ist die Vergangenheit gegenwärtig und wird sogar maßgeblicher Bestandteil alles Neuen. Kein Heute und kein Morgen ohne Gestern. Das ist in Georgiens Hauptstadt spürbares Leitprinzip diverser Revitalisierungsprojekte, die die sowjetische Vergangenheit weder verleugnen noch überdecken, sondern sie als Bestandteil der eigenen Geschichte und der eigenen Identität in neue Konzepte integrieren.
Vor diesem Hintergrund nimmt FABRIKA eine Vorreiterrolle ein. Multiverse Architecture (MUA) haben die ehemalige sowjetische Textilfabrik in ein Hostel und einen „Social Hub“ verwandelt, der nicht nur aus ästhetischen Gesichtspunkten seinesgleichen sucht. Seit 2016 sind hier Restaurants, Bars und kleine Shops unter einem „alten“ Dach beheimatet, deren Progressivität eine gelungene Einheit mit der architektonischen Historie bilden. „Unser Ziel war es, einen Ort zu entwickeln, an dem sich Einwohner und Touristen treffen und miteinander ins Gespräch kommen. So etwas gab es damals in Tbilisi noch nicht, da Design während der Sowjetunion sehr limitiert und homogen war. Man arbeitete immer mit den gleichen Materialien und dem gleichen Mobiliar. Nichtsdestotrotz wollten wir auch keine künstliche westliche Welt kreieren. Stattdessen entschlossen wir uns dazu, die charakteristische Homogenität sozusagen als ‚Stilmittel‘ aufzugreifen und so zu modifizieren, dass sie aus neuen Perspektiven betrachtet werden kann“, erklärt Gogiko Sakvarelidze, Co-Geschäftsführer von MUA. Das Resultat kann sich sehen lassen: Die Betonwände der ehemaligen Textilfabrik existieren zum Teil noch in ihrem Ursprungszustand, wurden gestrichen oder dienen als Präsentationsfläche für klassische Fotografie. Traditionell gemusterte Georgische Teppiche und Textilien sorgen für Wärme in den mit mid-century und industriellem Mobiliar ausgestatteten Räumen. Wenngleich die Vergangenheit als Inspirationsquelle offensichtlich ist, eignet sie sich in dem neuen Mix perfekt für eine Generation, die mit Wes Anderson groß wird. Doch FABRIKA ist weit mehr als ein historischer Ort, der zu neuem Leben erweckt wurde: Die neue Energie macht sich auch in der umliegenden Nachbarschaft bemerkbar und wirkt als Impulsgeber. Das heruntergekommene, verlassene Quartier hat sich mittlerweile in ein buntes Szeneviertel verwandelt, das bekannt ist für seine Cafés und Bars, Künstler-Ateliers und kreativen Bewohner. Sakvarelidze hat diese Entwicklung vorausgesehen: „Ich habe darauf gewettet, dass FABRIKA genau diese positive Impulswirkung haben wird!“ Wie beruhigend, dass sich große Visionen ab und zu auch in Realität verwandeln!

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In ähnlicher Art und Weise hat sich auch das heutige STAMBA HOTEL entwickelt, das verschiedene Nutzungen vereint – vom luxuriösen Designhotel inkl. imposantem Essensbereich bis hin zu einer Bibliothek, einem Kasino und einem hippen Fashion Store. Genau wie im Falle der FABRIKA hielten auch die Designer der Adjara Group an der Idee fest, die Historie des ehemaligen Verlagshauses in ihr neues Konzept zu integrieren. So erhielten sie nicht nur das verrostete Metall-Band, auf dem zur Sowjetzeit Propaganda-Flugblätter transportiert wurden, sondern verteilten in dem gesamten Gebäude auch rund 80.000 alte Bücher, die in der Sowjetunion verboten waren. Sie wurden entweder als dekorative Elemente in die Gestaltung einiger Wände integriert oder liegen zum Lesen aus. Die Revitalisierung des STAMBA HOTEL steht insofern stellvertretend für die Evolution Tbilisis. Ein Gebäude, das einst für die Bewohner absolut unzugänglich war und in dessen Gemäuern Dinge stattfanden, die keiner durchschaute, ist heute Zuhause eines neuen, konträren sozialen Ökosystems, das auf Freiheit, Austausch, Vielfalt und Transparenz beruht.

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Während FABRIKA und das STAMBA HOTEL auf eindrucksvolle Art beweisen, dass „Urban Patchwork“ nicht nur aus architektonischer Perspektive funktioniert, sondern auch aus sozialer, verwundert es, dass andere architektonische Landmarken, wie das Archäologische Museum – eine dramatische sowjetische Konstruktion – sowie Tbilisi’s „Skybridge“, die drei brutalistische Häuserblocks im Stadtteil Saburtalo miteinander verbindet, vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhalten. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken und gleichzeitig den Diskurs zum Thema Stadtentwicklung zu fördern, fand 2018 in Tbilisi erstmalig die Architektur-Biennale statt. Unter dem Titel „Buildings are not enough“ widmete sich das Programm primär den von den Stadtbewohnern neu entwickelten Strukturen innerhalb der Stadt. „Aus alten Mustern Neues zu erschaffen ist per se nichts Ungewöhnliches. Hier in Tbilisi lag das „Neue“ und die Innovationskraft in den positiven Effekten, die in der Stadt spürbar und sichtbar wurden“, erklärt Otar Nemsadze, einer der vier Gründer der Biennale.
Dass Georgiens Hauptstadt nicht nur eine Stadt am Fluss, sondern auch eine „Stadt im Fluss“ ist, mag wohl das Aufregendste sein. Reich an Kultur, Geschichte und Design, gibt es in Tbilisi noch viel Unbekanntes zu entdecken. Eins steht jedoch außer Frage: Tradition und Geschichte finden hier nicht nur genug urbanen Raum, sich mit der neu aufblühenden Innovationskraft und Kreativität zu mischen und zu entfalten, sondern auch die gesellschaftliche Offenheit.
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