Hand aufs Herz: Sind Sie schon einmal von „Zehner“ gesprungen? Mal ganz ehrlich! Oder gehören Sie zu den Menschen, die lieber nicht zugeben möchten, dass sie damals da oben standen und hinunter schauten – auf das so weit entfernte kleine blaue Etwas – um dann schweißgebadet und mit weichen Knien die Stufen zum Beckenrand wieder hinunterzusteigen…
Als ich vor einigen Wochen gebeten wurde, einen Artikel zum Thema „Angst um unsere Innenstädte“ zu schreiben, habe ich lange überlegt, wie ich wohl den Zusammenhang zwischen der vielerorts spürbaren, ja fast greifbaren Angst und Sorge um unsere Innenstädte mit meiner eigenen Sicht auf unsere Innenstädte herstellen kann. Und das aus meiner tiefen Überzeugung heraus, dass nicht die Sorge um Bewährtes oder der Wille des Bewahrens unser Denken und Handeln für die Innenstädte bestimmen sollte, sondern unsere Fantasie, unsere Leidenschaft und unser Verlangen nach Erleben. Unsere Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten.
Dabei teile ich die Sicht, dass sich die uns so wohlbekannten und vertrauten Innenstädte einer grundlegenden Veränderung gegenübersehen. Einer Transformation, deren Konsequenzen wir aus meiner Sicht noch gar nicht absehen können. Wertgeschätzte Rituale eliminierend. Vehement. Disruptiv. Unsicherheit schürend. Furchterregend. So, wie seinerzeit da oben, auf dem „Zehner“.
Aber muss das so sein? Bei mir resultiert aus dieser Vorstellung keine Angst, sondern der unbedingte Wille, Teil derer zu sein, die sich dieser überwältigenden Herausforderung stellen. Einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung. Einem radikalen Kurswechsel, mit Denkmustern, die grundlegende Probleme und Methoden neu definieren und einordnen. Neue Rituale entwickeln. Einem Paradigmenwechsel gleich.
Was es hierfür braucht? Nicht viel. Nur den Mut, alte Abhängigkeiten zu überwinden, vermeintlich sichere Pfade zu verlassen und wohlbekannte Strukturen loszulassen. Denn egal, wie das Grundmuster unserer Innenstädte zukünftig aussieht, es wird vielerorts nicht mehr viel mit dem gemein haben, was wir die letzten Dekaden als Innenstadt definierten. Oder doch?
Denn Land auf, Land ab hört man immer wieder den gleichen Wunsch nach kleinteiligen Innenstädten mit netten Quartieren, hoher Aufenthaltsqualität und einem individuellen Angebot an Handel, Gastronomie und Kultur. Inspirierend. Lust verschaffend. Ein Innenstadtideal. Ein Innenstadtidyll. Mantrahaft. Aber was ist daran eigentlich so schwierig? Erst recht, wenn Sehnsucht und Nachfrage so groß sind? Was braucht es dafür?
Erstens: Zunächst einmal braucht es die, die es miteinander angehen. Es braucht Sie! Die Macherinnen, Treiber und Entscheiderinnen unserer Innenstädte. Private wie öffentliche, die sich darüber im Klaren und auch einig sind, dass es trotz aller unterschiedlichen Zuständigkeiten eine gemeinsame Verantwortung gibt.
Eine Verantwortung für das, was wir Innenstädte nennen. Und für die Aufgaben, die sich aus ihrer historischen Wandlung ergeben. Menschen, die verstehen, dass es sich lohnt, aus Eigensinn gemeinsame Sache zu machen.
Deshalb, bitte: Lassen wir das Lamentieren, was wer zu tun hat und dass es doch nicht die eigene Aufgabe, sondern die der anderen Seite sei, sich darum zu kümmern. Die der Stadt. Die der Immobilieneigentümer. Die des Handels. Das ist müßig. Wie viel Lebenszeit wollen wir eigentlich noch mit dem Streit um diese Frage vergeuden? Begreifen wir endlich, dass es nur gemeinsam geht. Egal, ob bei der Ausarbeitung bundes- oder landesweiter Förderkulissen, bei der Aufstellung integrierter Stadtentwicklungskonzepte oder bei der Umsetzung regionaler Initiativen oder lokaler Maßnahmen – meinen wir es bitte(r) ernst mit dem Miteinander. Platzieren wir es nicht nur prominent in Ausschreibungen, Angeboten und Förderanträgen. Kollaborieren wir endlich. In Echt! Auf den Straßen und Plätzen und in den Köpfen. Statt nur auf dem Papier.
Zweitens: Ja, auch ich habe in meiner Wunschvorstellung unsere Innenstädte als Tummelplätze vor Augen, die nur so vor Lebendigkeit und Diversität strotzen. Lohnenswert. Liebenswert. Lebenswert. Aber können wir dies tatsächlich erreichen, wenn wir Haltung und Handlung an den gleichen Parametern wie vor 20 Jahren orientieren? Oder meinetwegen von vor drei Jahren? Wo völlig andere Rahmenbedingungen galten? Ich glaube nicht. Denn Tummelplätze sind das Ergebnis von Entwicklungsprozessen, in denen eben auch das Gefühl zum Maßstab des Handelns wird. Mindestens aber ein Gegengewicht zu Zahlen und Kennziffern bildet. Sense & sensitive!
Drittens: Im Kern dessen steht die schlichte Frage, wie wir unsere Innenstädte wieder zu liebens-, lohnens- und damit lebenswerten Orten machen. Die Frage ist schlicht und zugleich viel größer als die nach immobilienwirtschaftlicher Rendite. Aber ohne Beantwortung eben genau dieser Frage werden wir zu keinen tragfähigen oder nachhaltigen Strukturen kommen. Zu keinen Tummelplätzen.
Es wird unumgänglich sein, in unseren Innenstädten neue Wertschöpfung zu generieren. Denn welches Zielbild auch immer wir für unsere Innenstädte vor Augen haben – ob klimaneutral, grün, nachhaltig, resilient, oder den vielbeschworenen Ort der schicken Cafés, unverwechselbaren kleinen Lädchen, schattigen Plätze und sonnenverwöhnten Verweilqualität – ohne eine ökonomische Basis, ohne eine Möglichkeit, dass hieraus volks- wie betriebswirtschaftlicher Mehrwert generiert werden kann, wird es bei Wunschbildern bleiben. Werden diese – wenn überhaupt erreichbar – nur von kurzer Dauer sein.
Die Transformation unserer Innenstädte folgt einer eigenen Logik. Sie muss finanzierbar sein. Auskömmlich für die, die durch ihre Investitionen und ihr Handeln unseren Innenstädten die gewünschte Ausprägung verleihen. Sie erst ermöglichen. Nicht (allein) aus Altruismus, sondern aus der völlig legitimen Motivation, hiermit Geld zu verdienen. Oh Schreck!
Aber eben nicht nur im Sinne eines kurzfristigen Return of Invest, sondern im Sinne einer mittel- bis langfristigen Tragfähigkeit. Dank neuer Finanzierungs-, Betreiber- und Geschäftsmodelle. Die dringend erforderlich sind. Dringender denn je. Nicht zuletzt, um einer Dauerschleife staatlicher Alimentierung vorzubeugen. Wir tun daher gut daran, die aktuellen Förderprogramme als herausragenden Anschub einer zwingend erforderlichen Strukturreform zu nutzen. Als Chance, ein neues Grundmuster urbaner Wertschöpfung zu schaffen. Weit über die Notwendigkeit kurzfristiger Wirtschaftsförderung hinaus.
Verstehen wir die staatlichen Förderprogramme daher nicht als bloßen Bewältigungsmechanismus der pandemiegetriebenen Innenstadtkrise, sondern als herausragenden Impuls des vielerorts überfälligen Neustarts. Wir brauchen sie als Update des Systems Innenstadt. Ansonsten laufen sie ins Leere.
Bei alledem geht es darum, unsere Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Im Konzeptionellen wie im Alltäglichen. Zeigen wir, was wir können, anstatt uns vor Angst zu verstecken. Wir können Transformation. Wir können Innenstadt. Verkaufen wir uns und unsere Innenstädte nicht unter Wert. Stellen wir zur Schau, was geht. Wir sehen es Land auf Land: Wenn wir wollen, können wir es!
Stellen wir der Komplexität der Aufgabenstellung Einfachheit und Klarheit gegenüber. Stellen wir sie bloß mit radikaler Aufrichtigkeit. Machen wir uns gemeinsam auf die Suche nach der Existenzberechtigung unserer Innenstädte. Bestimmen wir ihre Vermögenswerte neu. Gönnen wir uns Zuversicht und begegnen wir der aktuellen angstgeschwängerten Situation mit einer gesunden Portion Risikolust. Verbunden durch das feste Vertrauen, daraus etwas Gutes entstehen zu lassen.
Lernen wir voneinander. Bauen wir auf den Ideen der anderen auf – auf der öffentlichen genau so wie auf der privaten Seite. Und kommen wir dazu in den strategischen Austausch. Gewollt. Regelmäßig. Werteorientiert. Schaffen wir gemeinsam einen Ermöglicherrahmen für innerstädtische Innovation und Zukunft. Nehmen wir uns dafür die Zeit. Ja, gönnen wir uns eine Expo für unsere Innenstädte. Alternierend. Inspirierend. Motivierend. Nehmen wir uns an die Hände und lassen Sie uns gemeinsam vom „Zehner“ springen!
Stefan Posert
ist seit Anfang 2021 Teamleiter „Stadtstrategien und Urbane Ökonomie“ im Büro Stadt + Handel. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist er an der Schnittstelle von Stadtentwicklung und Wirtschaftsförderung aktiv. Nach seinem Studium der Geographie und Raumplanung und ersten beruflichen Jahren bei der Wirtschaftsförderung in Essen wechselte er zur IHK nach Bochum, wo er mehr als 22 Jahre u. a. für die Branchenbetreuung sowie die Themen Stadtentwicklung, Planung und Standortmarketing verantwortlich war, 15 Jahre davon in Führungspositionen.
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