
Stadtplatz: Der Entwurf setzt auf die Neubelebung der Freiräume. © Octagon Architekturkollektiv
In den 1970er und 1980er Jahren entstanden im Südosten Erfurts die Großsiedlungen Herrenberg, Wiesenhügel und Drosselberg – typisch für die Zeit in industrieller Bauweise. Die Gebäudesubstanz der Siedlungen wurde im Rahmen des Bund-Länder-Programms Stadtumbau Ost zur Jahrtausendwende saniert und ist daher heute baulich intakt.
Eingeschlossen zwischen den drei Vierteln liegen die dörflichen Strukturen von Melchendorf, das 1938 von der Stadt Erfurt eingemeindet wurde. Die Übergangsbereiche zwischen den einzelnen Siedlungen sind planerisch nicht berücksichtigt worden. So führen die baulichen Strukturen – durch die veraltete Verkehrsinfrastruktur sogar noch verstärkt – zu einer Isolierung der einzelnen Stadtviertel. Ein weiterer Konfliktpunkt entsteht aus den sozialen Problemlagen: Da sich der Bestand kommunaler Wohnungsunternehmen auf die Großsiedlung konzentriert, konkurrieren Menschen aus benachteiligten sozialen Strukturen um den Wohnraum. Auch bietet der aktuelle Bestand und die Stadtgestaltung weder Räume zur Stärkung der Gemeinschaft, noch zum sozialen Austausch, sodass Konflikte zwischen Alt und Jung sowie unterschiedlichen Kulturen bestehen bleiben oder sogar wachsen.
Mit dem Vorhaben Neue Mitte Südost als Teilmaßnahme des Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der Städtebauförderung des Bundes soll das Gebiet neu gestaltet werden. Die Stadt Erfurt ist mit dem 25 ha großen Areal seit 2019 Teil des deutschlandweiten Förderprogramms. Die ersten Visionen wurden im Rahmen eines anonymen städtebaulich-freiraumplanerischen und verkehrsfunktionalen Wettbewerbs entwickelt. Ausloberin war die Landeshauptstadt Erfurt. Ziel der Teilmaßnahme ist eine Verbindung der Großsiedlungen Herrenberg, Wiesenhügel und Drosselberg mit den kleinteiligen Strukturen Melchendorfs. Gelingen soll dies mithilfe einer Neuorganisation der Verkehrsräume und qualitativen Freiräumen. Mit Blick auf das Budget wird ein schrittweiser Prozess angestrebt – die erste Phase soll bis 2030 realisiert werden, die zweite bis 2040.
Neubelebung der Zwischenräume
Unter den vielversprechenden Ideen konnte besonders der Beitrag des Octagon Architekturkollektiv in Zusammenarbeit mit impuls°Landschaftsarchitektur und team red die Jury unter dem Vorsitz von Johannes Ringel, Professor für Stadtentwicklung an der Universität Leipzig, überzeugen. Ihr Konzept setzt auf gemeinwohlorientierte Bausteine und eine Neuregelung des Verkehrs mit dezentraler Erschließung der Wohnquartiere. Darüber hinaus konnte der erstplatzierte Entwurf mit der Idee punkten, den KFZ-Verkehr auf einen äußeren Ring umzuleiten. Die innere Erschließung soll über ein auf Radfahrer:innen und Fußgänger:innen ausgelegtes Wegenetz erfolgen. Unterdessen nehmen am Ring platzierte Quartiersgaragen den ruhenden Verkehr auf und machen so die Freiflächen für das gemeinschaftliche Leben neu bespielbar.

Lageplan Gesamtkonzept Vision 2060 © Octagon Architekturkollektiv & impuls°
Das Rückgrat bilden die landschaftsräumlichen Verknüpfungen in Form einer Landschaftsachse in Nord-Süd-Richtung sowie eine verkehrsreduzierte Stadtachse in Richtung Ost-West. Die Landschaftsachse lässt die Grünräume durch die Stadt fließen und verbindet die nördliche Feld- und Wiesenlandschaft mit dem südlichen Waldgebiet. Entlang der Stadtachse verteilen sich drei neu gestaltete Plätze, die das Quartier erschließen und als Verteiler in das innere barrierefreie Wegenetz fungieren. Der Stadtplatz bildet aus der Stadt kommend den Auftakt ins Quartier. Er bietet Aufenthaltsorte und Wegesysteme in die weitere Umgebung. Die hier befindliche Straßenbahnhaltestelle an der Kranichfelder Straße wird ebenerdig umgebaut und die Fahrbahnen auf zwei Spuren verringert. So soll das Quartier näher zusammenwachsen. Der Platz am Sibichen liegt im Zentrum des Projektes und formt den Eingang in das neu entstehende Quartier, das vorrangig für produktive Nutzungen vorgesehen ist. Der Melchendorfer Marktplatz macht das Platz-Trio komplett. Er bildet mit den bestehenden Einkaufsmöglichkeiten den Auftakt in das umliegende Wohngebiet. Gemeinwohlorientierte Bausteine zwischen den Plätzen, wie ein Stadtteilzentrum oder eine Kita, und das sogenannte Aktivband mit Spiel- und Sportangebot bilden die Voraussetzungen für ein gesellschaftliches Miteinander und eine soziale Infrastruktur.

Strukturplan Vision 2060 © Octagon Architekturkollektiv
Gemäß der Auslobung sieht das Konzept drei Phasen vor. Die erste Phase beinhaltet die Neuorganisation des Verkehrs, die den äußeren Ring etabliert und dadurch neuen Raum für Grünflächen und Landschafts- und Stadtachse ermöglicht. Zudem soll das bestehende Herrenberg-Center baulich ertüchtigt und um den Baustein des Bürgerhauses ergänzt werden. Diese ressourcenschonende Weiterentwicklung des Bestands hat laut der Jury Modellcharakter. Die zweite Phase sieht die Realisierung der öffentlichen Nutzungsbausteine vor. Außerdem sollen die Stadtachse konturiert und die Quartiersgaragen umgesetzt werden. Das zentrale „Produktive Quartier“ fällt in die dritte und letzte Phase. Es stärkt den Platz am Sibichen und trägt zur Verbindung der Siedlungsbereiche bei.
Nach Meinung der Jury bietet der Wettbewerbsbeitrag von Octagon Architekturkollektiv eine gute Grundlage für die weitere Bearbeitung, die an einigen Stellen noch einer detaillierten Ausarbeitung bedarf. Man darf also gespannt auf die Realisierung der einzelnen Phasen blicken.

Der Platz am Sibichen liegt im Zentrum der Planung. © Octagon Architekturkollektiv
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